Gefürchtet
sprengte meine Welt in tausend Stücke. Ich sah die Ruhe in Jesses Gesicht, sah die Sonne, die sich auf dem Ozean hinter ihm spiegelte, von den Fenstern reflektiert wurde, von seinen unendlich fernen Augen.
Von der Pistole.
31. Kapitel
Sinsa stand am Fenster zur Einfahrt und bürstete ihr Haar. Langsam zog sie die Borsten durch die üppige schwarze Mähne. Sie hielt nach Rickys Auto Ausschau. Bitte, komm wieder.
Jetzt war er schon über eine Stunde weg. Daddy, bitte komm nach Hause.
Wollte er sie einfach hierlassen? Das konnte er ihr nicht antun. Sie spielte mit der Bürste in ihrem Haar.
Wenn er nicht bald auftauchte, musste sie davon ausgehen, dass ihm etwas zugestoßen war. Vielleicht ein Autounfall, sofern er nicht mehr richtig sah oder ohnmächtig wurde. Das durfte nicht passieren. Sie war mit ihm noch nicht fertig.
Er war aufgebracht gewesen, aber wie sehr? Offenbar genug, um wegzufahren und sie allein zurückzulassen. Aber würde er deswegen seinen ganzen Tagesablauf über den Haufen schmeißen? Es war schon nach vier. Um vier Uhr schaute er sich immer Magnum an und aß dazu einen Eisbecher mit heißer Schokosauce. Magnum hatte er noch nie verpasst. Danach ging er in die Sauna.
Wo zum Teufel war er?
Sie legte die Bürste weg. Wenn er nicht bald wieder da war, hatte sie sich verkalkuliert. Von der Zeit her und vielleicht auch bei der Dosis.
Sie warf einen Blick auf den Tisch. Das Tütchen neben der
Bürste enthielt immer noch eine gan ze Menge Samen. Wenn nötig, konnte sie ihm eine zweite Tasse verabreichen. Die erste Tasse war nicht exakt berechnet gewesen. Sie hatte nur grob geschätzt, wie viel von dem Zeug für die gewünschte Wirkung erforderlich war. Shaun nahm immer ein paar Samen, damit er nicht so schwitzte. Ricky hatte sie die zehnfache Dosis verabreicht. Falls der erste Aufguss zu stark gewesen war, schaffte er es vielleicht gar nicht mehr bis nach Hause.
Sie griff nach dem Tütchen. Hexenkraut, nannten sie das Zeug. Donnerkugel, Kratzkraut, Schlafkraut, Stachelnuss, Teufelsapfel, Tollkraut. Datura stramonium. Stechapfel.
Fragen Sie vor der Einnahme Ihren Arzt. Alle Teile der Pflanze sind stark giftig.
Komm nach Hause, Daddy. Wir sind noch nicht fertig.
Ich raste zurück zu Jesses Haus. Während ich über die Schlaglöcher holperte, fummelte ich mit ei ner Hand an meinem Mobiltelefon herum. Immer wieder warf ich einen Blick auf das Display.
Das durfte doch nicht wahr sein! Am Bahnübergang ertönte das Signal, das Licht blinkte, und die Schranke senkte sich. In etwa hundert Meter Entfernung rumpelte ein Güterzug heran.
Das schafe ich noch.
Irrtum.
Ich stieg mit voller Kraft auf die Bremse. Die Reifen quietschten. Das Antiblockiersystem hämmerte im Bremspedal, und das Lenkrad vibrierte in meiner Hand. Der Zug pfiff ohrenbetäubend. Vermutlich hatte jemand beobachtet, wie ich auf den Bahnübergang zusteuerte. Ich trat die
Bremse bis zum Anschlag durch. Der Explorer stoppte so abrupt, dass mein Kopf nach vorne geschleudert wurde. Die Schranke senkte sich. Auf die Motorhaube. Mit einem Höllenlärm donnerte der Zug vorbei.
Er war endlos lang. Ein Dutzend Waggons, zwei Dutzend. Komm, mach schon. Ich wählte Jesses Nummer. Anrufbeantworter. Sein Handy war ausgeschaltet.
Der Zug ratterte vorüber. Nach fünfunddreißig Waggons war immer noch kein Ende abzusehen. Ich rief die Auskunft an und fragte nach Sam Rosenberg, Jesses nächstem Nachbarn. Kein Eintrag. Ich war völlig machtlos. Meine einzige Hoffnung war, dass die Polizei bereits am Haus war, um den Einbrecheralarm zu überprüfen.
Immer mehr Güterwaggons ratterten an mir vorbei. Ich krallte die Hände um das Lenkrad.
Wie hatte ich so blind sein können! Ich hatte Jesse ins Gesicht gesagt, wie rücksichtslos und gefährlich ich sein Verhalten fand, um ihn wachzurütteln, ohne zu merken, wie verzweifelt er war. Zu allem Überfluss hatte ich vor seinen Augen mit einem anderen Mann geflirtet. Und jedem ernsthaften Gespräch war ich ausgewichen.
Ich betete. Lieber Gott, bitte nicht. Lass es nicht zu. Ich tu auch alles, was du willst. Du kannst mich haben. Aber lass es nicht zu.
Im Rückspiegel tauchte mit einem Mal ein Fahrzeug auf. Ein Streifenwagen.
Sinsa stand in der Garage und hörte Rickys Auto die Einfahrt heraufkommen. Endlich! Sie fuhr das Garagentor herunter, damit Ricky den BMW nicht entdeckte, und sprintete zum Haus, bevor er um die Ecke bog. Die Silberarmbänder
an ihren Handgelenken klirrten, als sie durch
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