Gefürchtet
»Du verarschst mich.«
»Auf Green Dragons gibt es überall Überwachungskameras, hast du das nicht gewusst? Karen hat in jedem Raum Glasfaserkameras installiert, um Sinsa zu kontrollieren. Du weißt doch sicher, dass sie ihre Tochter an der kurzen Leine hält.«
Er spähte zum Ende des Piers. »Sie hat alles auf Video?«
»Natürlich hat sie das. Und sie hat große Pläne damit.«
»Wenn sie zur Polizei geht, ist sie selber dran.«
»Ist sie nicht. Wer ist denn wohl auf dem Video, Shaun? Was ist auf dem Film zu sehen?«
Sein Gesicht wurde ausdruckslos. »Verdammte Scheiße. Dieses Miststück. Ich, wie ich … Es wird so wirken, als ob …«
»Wie wird es wirken, Shaun?«
»Als ob sie mich hätte stoppen wollen. Verdammt noch mal. Ich kann’s nicht glauben.«
»Das solltest du aber. Sie will mit dem Band die dicke Kohle einsacken. Ein großes Studio und dann ins Fernsehen. Irgendein zweitrangiger Schauspieler wird dei ne Rolle spielen, ein Typ von einer Nachmittags-Soap oder ein Boy-Band-Sänger.«
»Kommt nicht infrage.«
»Das Geld streicht natürlich Sinsa ein. Und den Ruhm.«
Er holte tief Luft, schüttelte den Kopf und richtete den Revolver auf mein Gesicht.
»Du lügst. Ohne Beweise glaube ich dir gar nichts.«
PJ krabbelte unter dem Pritschenwagen hervor.
Die Scheinwerfer des Mustangs strahlten uns an. Der Wagen kam mit röhrendem Motor zum Stehen. Hinter den Lichtkegeln konnte ich nichts erkennen, aber Jesse hatte die ganze Szene im Blick.
»Leg die Waffe weg. Wenn du dei ne letzte Kugel an mich verschwendest, kriegst du das Geld nie.«
Er riss die Augen auf, fixierte erst die Waffe, dann mich und das Auto. Er senkte die Waffe und schwenkte die Trommel aus, um die Patronen zu zählen. Ich konnte nicht ausmachen, wie viele tatsächlich noch geladen waren, und der vage Ausdruck auf Shauns Gesicht verriet mir nicht viel.
Ich wandte mich zum Auto, zuckte mit dem Knie, wie PJ es immer tat, und hob in PJ-Manier grüßend das Kinn.
Einen Augenblick verharrten wir so. Hinter dem grellen Fernlicht war nicht mehr als eine Silhouette zu sehen. Shaun legte die Hand über die Augen.
Jesse öffnete die Tür, zog sich am Dach hoch und stütz te sich auf den Wagen. In dem gleißenden weißen Licht wirkte es, als hätte er einfach lässig die Hand auf die Tür gelegt. Sein Gesicht war nur ein verschwommener Fleck.
»Ich will sie nur abholen, klar, Mann?«, sagte er.
Shauns Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Dieses Miststück.«
Er drehte sich genau in dem Augenblick um, in dem Sinsa die Treppe heraufkam. Ich bedeutete Jesse, wieder einzusteigen, und rannte zu PJ.
Shaun trat Sinsa entgegen. »Du miese Verräterin!«
Ich packte PJ und schleifte ihn gebückt Richtung Auto. Sein Atem ging langsam und mühsam, die Pupillen waren zu Stecknadelköpfen verengt. Er schleppte sich zum Rand des Piers, legte eine Hand auf die Eisenbahnschwelle und versuchte aufzustehen, brach jedoch sofort wieder zusammen.
»Was ist passiert?« Er warf ei nen Blick auf sei ne Hose und den geöffneten Reißverschluss. »Oh, Mann.« Sein Gesicht verzerrte sich, und er krümmte sich vor Schmerz.
Sinsa und Shaun marschierten aufeinander zu.
»Shaun, was ist denn mit dir los? Da ist die Delaney. Mach sie kalt«, sagte Sina.
»Sie hat nicht gelogen. PJ war gar nicht hier. Du Miststück!«
»Was soll das heißen? Da ist er doch.« Sie winkte. »Peej.«
PJ hangelte sich auf die Eisenbahnschwelle. »Sin?«
Schachmatt. Shaun schwang die Waffe herum und richtete sie auf PJs Kopf. Ende der Fahnenstange. Mir blieb nur noch eine Option.
»Fahr los!«, brüllte ich Jesse zu.
Dann stieß ich PJ über den Rand.
Er fiel wie ein Stein. Shaun gaffte ihm mit offenem Mund nach, fluchte und feuerte in die Tiefe. Ich sprang vom Pier in die Dunkelheit.
Mit ausgestreckten Armen und zappelnden Füßen segelte ich durch die kalte Luft. Wie hoch war der Pier? Zehn Meter? Unter mir toste der schwarze Ozean.
Der Aufprall war hart und traf mich di rekt in die Rippen. Die Luft wurde aus mei nen Lungen gedrückt, und ich versank in der unbarmherzigen, eisigen Dunkelheit.
Ich strampelte, um wieder an die Oberfläche zu kommen, aber meine durchnässte Kleidung zog mich nach unten. Meine Stiefel füllten sich mit Wasser. Als ich endlich mit weit aufgerissenem Mund auftauchte, atmete ich prompt Meerwasser ein. Ich hustete, würgte, und mein Kopf geriet unter Wasser. Verzweifelt paddelnd arbeitete ich mich wieder nach oben, drosch auf die Wellen
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