Gefürchtet
rote Bou gainvillea weg zu räu men, die der Sturm umgerissen hatte. Ihre goldbrau ne Haut war feucht vom Schweiß.
»Oh, mein Gott!« Sie ließ die Schere fallen. »Wo bist du gewesen?«
Ein Adrenalinstoß rauschte durch meine Adern. »Ist irgendwas …«
Sie packte mich und drückte mich an ihre Brust. »Warum bist du nicht ans Telefon gegangen?«
Mein Puls raste. »Was ist los?«
»Du lieber Himmel, du weißt ja gar nichts davon.«
»Nikki, du jagst mir Angst ein.«
»Komm mit.« Sie zog mich über den Rasen zu ihrem Haus. »Wir müssen Carl aufhalten.«
»Wieso aufhalten?«
Nikki verfiel in Laufschritt. »Er ist unterwegs zur Leichenhalle.«
Meine Beine fühlten sich an wie Watte.
»Komm schon.« Sie zupfte mich am Arm. »Jesse …«
Weißes Rauschen, weißer Nebel, mehr hörte und sah ich nicht. Meine Knie gaben unter mir nach, und ich fiel ins Gras wie eine Marionette.
Feuchtigkeit drang durch mei nen Trainingsanzug. Ich hörte Nikki auf mich einreden, roch nasses Gras und erstickend süßen Jasmin.
Sie packte mich an den Schultern. »Nein! Evan, nein.«
Mein Mund stand weit offen, und Nikki verschwamm vor
meinen Augen. Das Auto. Lieber Gott, hoffentlich hatte er keinen Autounfall gehabt.
»Carl und Jesse sind unterwegs zur Leichenhalle«, sagte sie.
Ihre Hand lag auf meinem Ellbogen. Ich schlug sie weg.
»Tu mir das nicht an«, hörte ich mich selbst sagen. Ich weinte. »Wieso tust du mir das an?«
Sie half mir auf zustehen. Meine heftige Reaktion hatte sie offenbar einigermaßen aus der Fassung gebracht. Ich richtete mich auf und stieg die Stufen zur Veranda hinauf.
»Was wollen sie in der Leichenhalle?«, fragte ich. »Wer ist denn gestorben?«
Nikki öffnete die Küchentür. »Du.«
6. Kapitel
Nikki umklammerte das Lenkrad noch fester. »Es wird sich alles aufklären.«
»Wenn du schneller als vier zig fahren würdest, könnten wir sie noch einholen.«
Wir krochen im Schneckentempo durch die Hollister Avenue in Goleta. Mit Thea im Kindersitz weigerte Nikki sich, schneller als die zulässige Höchstgeschwindigkeit zu fahren. Jesses Handy war ausgeschaltet, und in der Leichenhalle meldete sich nur der Anrufbeantworter.
»Evan, beruhige dich. Du bist noch am Leben.«
»Aber Jesse weiß das nicht.«
Die Eukalyptusbäume am Straßenrand ächzten im Wind. Der weiße Nebel in meinem Kopf war einem verwirrenden Chaos g ewichen.
»Erklär es mir noch mal«, sagte ich. »Vielleicht ergibt es beim zweiten Mal mehr Sinn.«
Sie holte tief Luft. »Jesse wurde telefonisch gebeten, zur Leichenhalle zu kommen.«
»Um meine Leiche zu identifizieren.«
»Ja.«
»Das ist doch der absolute Wahnsinn.«
»Schätzchen, Jesse war völlig außer sich.«
Der Verkehr wurde langsamer, weil die Ampel vor uns rot war. Meine Knie schlugen gegeneinander. »Fahr schon.«
»Er stand unten an der Hintertreppe und warf Steinchen gegen das Küchenfenster. Und dabei brüllte er die gan ze Zeit nach dir.« Sie presste die Lippen zusammen. »Den Ausdruck auf seinem Gesicht möchte ich nie wieder sehen.«
Mir war eiskalt, und ich fühlte mich völlig ausgebrannt. Ich vergrub die Fäuste in den Taschen meines Sweatshirts. Die Ampel schaltete auf Grün, aber das Fahrzeug vor uns rührte sich nicht. Ich beugte mich auf die Fahrerseite und hupte.
Nikki warf mir ei nen finsteren Blick zu. »Beruhig dich wieder. Es geht ihm bestimmt gut.«
»Fahr einfach zu.«
Ich spürte Nikkis Blick auf mir ruhen. Er schien bis in die geheimen Tiefen zu dringen, in denen sich mei ne schlimmsten Ängste verbargen. Sie erkannte, was ich nicht hatte aussprechen wollen: meine Furcht, dass Jesse bewusst oder fahrlässig sein Leben riskierte und zu Schaden kam.
»Ich weiß, dass ich nicht tot bin, aber ich will nicht, dass er sich eine Leiche anschauen muss. Er soll noch nicht mal den Fuß in die Leichenhalle setzen müssen. Nicht nach allem, was passiert ist.«
Thea, die unsere Anspannung zu spüren schien, rüttelte an ihrem Autositz. »Raus. Will raus.«
»War er denn so deprimiert?«, fragte Nikki.
Nicht deprimiert, sondern außer sich vor Kummer. Jesses Freund Isaac Sandoval war gestorben, als ein Mann, der Jesse ausschalten wollte, die beiden über den Haufen fuhr. Der Täter hatte danach das Weite gesucht und war erst vor wenigen Monaten wieder aufgetaucht. Isaacs Bruder Adam versuchte, ihn ins Gefängnis zu bringen, und musste dafür mit seinem Leben bezahlen. Er war vor Jesses Augen gestorben.
Gegen jede Vernunft und
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