Gefürchtet
Telefongespräch. »Jemand hat deine Identität gestohlen. Oder die Karten sind gefälscht. Du weißt, was das heißt.«
»Cherry Lopez. Eine letzte Gemeinheit. Das war doch ihre Spezialität.«
»Letzten Sommer wurde meine Handtasche gestohlen«, erläuterte ich Ms. Aguilar. »Die Diebin hatte sich auf Kreditkartenbetrug spezialisiert. Da könnte eine Verbindung bestehen.«
Verdammt noch mal, hatte Lopez mei ne Kreditkarteninformationen online verkauft? Oder war die Frau unter dem Tuch eine professionelle Diebin?
»Auf jeden Fall wurde deine Identität gestohlen.« Jesse wirkte sehr beunruhigt. »Das ist ganz schlecht.«
»Allerdings.«
Ms. Aguilar deutete zur Tür. »Wir besprechen das besser woanders.«
Jesse rührte sich nicht von der Stelle. »Aber zuerst erklären Sie mir, wie Sie dazu kommen, die Angehörigen zu benachrichtigen, bevor Sie die Identität überprüfen.«
Im Hinterkopf hörte ich Gophers Worte. Stimmt. Du bist ja in Wirklichkeit Evan Delaney. Gelacht hatte er dabei, weil er das nicht glaubte. Ich rieb mir mit den Fingerknöcheln die Stirn. Um mich herum spulte sich eine Spi rale des Bösen ab, die mit der Toten endete, die hier vor uns lag.
»Sie haben keine Fingerabdrücke überprüft? Keine besonderen Kennzeichen? Keine Vermisstenmeldungen?«, fragte er.
Ich starrte auf das Tuch und nahm zum ersten Mal war,
was ich in dem metallisch sterilen Kühlraum bewusst ignoriert hatte: den Geruch von stehendem Wasser.
»Haben Sie wenigstens einen flüchtigen Blick auf die Frau geworfen, bevor sie Evans Bruder angerufen und ihm er zählt haben, seine Schwester wäre tot?«, wollte Jesse wissen.
Ms. Aguilars Wangen färbten sich rosa. »Sie hatte jede Menge Karten auf diesen Namen bei sich. Außerdem ist die Leiche noch gar nicht identifiziert. Deswegen sind Sie nämlich hier.«
»Ist sie ertrunken?«, fragte ich.
»Die Todesursache wurde noch nicht ermittelt«, sagte Ms. Aguilar.
Der Geruch war überwältigend. Es war der Geruch des Ozeans.
»Wurde sie an den Strand gespült?«, fragte ich.
»Unterhalb von More Mesa.« Sie warf ei nen leidenschaftslosen Blick auf das Tuch. »In der Nähe des schwar zen Sands.«
»Jericho Point«, stellte Jesse fest.
Ich nickte zerstreut. Der Strand unterhalb der erodierenden Steilküste hieß deswegen Jericho Point, weil immer wieder Hänge einstürzten und unvorsichtige Strandwanderer unter sich begruben. An dieser Stelle kamen mit deprimierender Regelmäßigkeit Menschen ums Leben. Wenn jemand bei Isla Vista ins Wasser fiel, war es durchaus denkbar, dass er von der Strömung dorthin getragen wurde.
»Lassen Sie mich die Leiche sehen«, sagte ich.
Jesse warf mir einen ungläubigen Blick zu. »Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Doch. Warte draußen auf mich.« Ich schaute Ms. Aguilar an. »Bitte.«
Jesse packte mein Handgelenk. »Nein, tu dir das nicht an.«
»Ich werde damit schon fertig.«
Sein Blick war eisig. »Du weißt es also noch nicht.«
»Was?«
»Sie ist nicht ertrunken, Evan. Sie wurde ermordet.«
Schlagartig verschwamm die Realität um mich herum. Die eisige Luft raubte mir den Atem.
»Das versteh ich nicht«, sagte ich.
Ms. Aguilars Miene war düster. »Die Verstorbene ist offenbar einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Die Leiche bietet keinen schönen Anblick.«
Meine Haut kribbelte, und ich konnte den Blick nicht von dem Tuch wenden. »Ich muss es wissen.«
»Vielleicht geht es ja auch anders«, meinte Ms. Aguilar.
Sie trat an die Leichenmulde, hob ei nen Zipfel des Tuches an und legte einen der Arme frei. Ich erkannte ein zartes Handgelenk mit ei nem silbernen Bettelarmband. Die grau verfärbte Hand war von der Leichenstarre gezeichnet.
»Kommt Ihnen das bekannt vor?«
Sie deutete auf die Anhänger an dem Armband. Ein Glücksklee, ein Koala, ein Delfin, ein chinesisches Schriftzeichen. Ich schüttelte den Kopf.
»Mr. Blackburn, können Sie bestätigen, dass es sich nicht um Kathleen Evan Delaney handelt?«
Jesse war kreidebleich geworden und murmelte einen unterdrückten Fluch. Er rollte näher an die Tote heran und starrte auf das Handgelenk.
»Mr. Blackburn?«
Er hob die Hand, um das Tuch wegzuziehen, hielt aber inne. »Zeigen Sie mir das Gesicht.«
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. »Was soll das?«
»Nehmen Sie das Tuch weg.« Seine Augen sprühten Funken. »Jetzt machen Sie schon.«
Ms. Aguilar zögerte, doch dann stellte sie sich mit geübter Förmlichkeit neben die Leichenmulde und schlug das
Weitere Kostenlose Bücher