Gegen alle Feinde - Clancy, T: Gegen alle Feinde - Against All Enemies
Abschluss in Betriebswirtschaft und hätte gerne in Kalifornien für ein großes Filmstudio oder in New York für einen berühmten Modedesigner gearbeitet. Unglücklicherweise war ihr Vater strikt dagegen. Er hatte ihr ein Jahr gegeben, in dem sie sich selbst finden sollte, aber in diesem Herbst sollte sie nach Hause zurückkehren, um in seiner Firma zu arbeiten. Miguel hatte natürlich viel größere Pläne für sie.
»Also bist du endlich aus Spanien zurück«, sagte seine Tante. »Wie lange warst du dort?«
Er grinste Sonia an. »Etwa einen Monat.«
»Dein Vater hat mir erzählt, die Reise sei ein Geschenk für deinen erfolgreichen Studienabschluss gewesen«, sagte seine Tante und schaute ihn mit großen Augen an.
»Das stimmt«, sagte Miguel stolz. Dann wandte er sich an seinen Onkel. »Wie stehen die Dinge bei euch daheim?«
Arturo wischte sich mit der Hand über die Glatze. Dann nickte er. »Wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns. Die Gewalt wird immer schlimmer.«
Mariana winkte ab. »Aber darüber wollen wir doch heute nicht sprechen! Und jetzt bringen wir euch zu unserem Tisch. Er steht gleich dort drüben.«
»Oh, gut, wir sitzen bei euch«, freute sich Sonia.
Auf dem Weg dorthin wurde Miguel jedoch von mindestens vier Freunden angesprochen, einem Geschäftspartner seines Vaters, zwei Jungs von seiner alten Baseballmannschaft an der Arizona-State-Universität und einer ehemaligen Freundin, die das halbminütige Gespräch in eine sich wie dreißig Jahre anfühlende Peinlichkeit verwandelte, da sie mit ihm französisch sprach, während Sonia danebenstand und verloren wirkte.
»Ich wusste nicht, dass du Französisch kannst«, sagte sie zu ihm, als sie der aufdringlichen Sirene endlich entkommen waren.
»Englisch, Französisch, Spanisch, Deutsch und Holländisch«, sagte er. »Und manchmal auch die ›Gangsta‹-Sprache: Was geht ab, Alda?«
Sie lachte, und sie nahmen ihre Plätze an ihrem Tisch ein, der mit dem besten Porzellan und Besteck gedeckt war, das man auf dieser Welt erstehen konnte. Sein Vater hatte ihn gelehrt, nichts als selbstverständlich zu betrachten. Während er also ein privilegiertes Leben führte, schätzte er auch noch die kleinsten Details wie den feinen Stoff seiner Serviette oder das exquisite Leder, aus dem sein Gürtel gefertigt war. Wenn so viele so wenig besaßen, musste er wenigstens dankbar sein und jeden Luxus seines Lebens zu schätzen wissen.
Neben einer großen tragbaren Projektionswand stand ein Lesepult mit Mikrofon und einem Laptop. Sein Vater wollte seine Rede vor dem Essen halten, da »vollen Bäuchen schlecht zu predigen« sei, wie er zu sagen pflegte.
Arturo stand auf und ging zum Rednerpult. »Meine Damen und Herren, wenn Sie sich bitte hinsetzen wollen, wir werden gleich anfangen. Für jene, die mich nicht kennen, ich bin Arturo González, der Gouverneur von Chihuahua. Ich möchte Ihnen meinen Schwager vorstellen, einen Mann, den man eigentlich nicht vorzustellen braucht. Ich dachte mir jedoch, ich könnte Ihnen bei dieser besonderen Gelegenheit etwas über Jorge als kleinen Jungen erzählen, denn wir gingen in dieselbe Schule und kennen uns bereits unser ganzes Leben lang.«
Arturo holte einmal tief Luft und sagte unvermittelt: »Jorge war ein Jammerlappen. Das meine ich ernst.«
Alle Zuhörer brachen in Gelächter aus.
»Wann immer wir Hausaufgaben aufbekamen, jammerte er stundenlang. Dann kam er zu mir, ich machte ihm seine Hausaufgaben und er gab mir dafür eine Dose Cola oder eine Packung Kaugummi. Sehen Sie? Er war schon damals ein guter Geschäftsmann!
Aber im Ernst, meine Damen und Herren, sowohl ich als auch Jorge wussten unsere Schule und unsere Lehrer zu schätzen. Ohne sie stünden wir heute nicht hier. Deshalb ist es uns beiden auch ein großes Anliegen, dies unseren Kindern weiterzugeben. Jorge wird Ihnen mehr über die Arbeit der Stiftung erzählen, also übergebe ich jetzt ohne weitere Umschweife das Mikrofon an Señor Jorge Rojas!«
Arturo schaute zu einer der Bars hinüber, aus der der Hausherr jetzt heraustrat. Sein Anzug ähnelte dem Miguels, außer dass er eine glänzend rote Krawatte trug, deren Ränder mit Goldstickereien eingefasst waren. Er hatte sein frisch geschnittenes Haar akkurat mit Gel an den Kopf geklebt. Miguel fielen zum ersten Mal die grauen Härchen an seinen Schläfen und seinen langen Koteletten auf. Er hatte seinen Vater bisher nie als alt angesehen. Jorge war ein sportlicher Mann, der während seines
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