Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
Vom Netzwerk:
Schmatzenden erkannte. Und er war froh, dass es so dunkel im Raum war. Das ersparte ihm den widerlichen Anblick der grunzenden Ferkel in Menschengestalt.
    Der irre Geoff hatte seinen Stammplatz in einer kleinen Nische im hinteren Teil des Raumes. Seit seiner Verwundung vor sechs Jahren schlief er beinahe jede Nacht dort, alle Gäste wussten, dass dies Geoffs Schlafplatz war, und niemand hätte gewagt, ihm diesen streitig zu machen. Die bösen Tiraden und erbosten Tritte mit dem Holzbein, die darauf unweigerlich folgen würden, wollte kein noch so Betrunkener über sich ergehen lassen.
    Blueskin tastete sich an der Wand entlang, stolperte über Beine und Bäuche, trat auf Hände und Haare, was jeweils ein kleines Aufstöhnen oder Grunzen zur Folge hatte, und stellte schließlich zufrieden fest, dass ein menschliches Bündel zusammengekauert in Geoffrey Ingrams Nische lag. Er tastete das Bündel ab und bekam ein Holzbein zu fassen, das lose neben dem Schlafenden im Stroh lag.
    »Geoff«, sagte Blueskin und stupste ihn mit dem Holzbein an. »Wach auf! Ich muss mit dir sprechen. He, Geoff, mach die Augen auf!«
    »Ich schlafe nicht, Blueskin«, antwortete der irre Geoff, und seine Stimme klang tatsächlich nicht verschlafen. »Warum hast du dich verkleidet?«
    »Woher weißt du das?«, wunderte sich Blueskin, der sein Gegenüber in der Finsternis nicht einmal als Schemen erkennen konnte. Dabei lag er nur eine Armeslänge von ihm entfernt.
    »Du raschelst wie eine Frau«, sagte Geoff. »Bist du jetzt ein Molly?«
    »Quatsch!«, knurrte Blueskin ärgerlich und warf das Holzbein ins Stroh. »Verdammtes Schandmaul!«
    »Man munkelt, dass du tot bist«, antwortete der Alte und lachte. »Zu Kohle verbrannt. Hab kein Wort davon geglaubt. Bin zwar ein Krüppel, aber nicht auf den Kopf gefallen.«
    »Du musst mir helfen, Geoff!«
    »So, muss ich das?«
    »Ich will nach Bedlam.«
    »Kein schöner Ort.«
    »Und wieder raus.«
    »Kann ich verstehen.«
    »Mit Hope. Sie haben sie dort eingesperrt.«
    »Oh!«, meinte Geoff und pfiff leise durch die Zähne. »Schwierig.«
    »Deshalb sollst du mir ja helfen«, sagte Blueskin und legte seine Hand auf Geoffs linkes Knie, direkt über dem Stumpf. »Du kennst dich in Bedlam besser aus als jeder andere. Du weißt, wie’s geht. Bist ja nicht auf den Kopf gefallen. Gemeinsam können wir Hope herausholen.«
    »Ohne mich, Blueskin.«
    »Du bist mir was schuldig.«
    »Ach, kommst du jetzt mit den ollen Geschichten?«, höhnte der Alte. »Vergiss es. Such dir ’nen anderen Irren.«
    Im gleichen Augenblick drückte Blueskin zu. Er umfasste Geoffs mageres Kniegelenk und quetschte es zwischen Daumen und Mittelfinger wie in einem Schraubstock, bis es leise knackte und Geoff vor Schmerz laut aufschrie.
    »Schnauze, da drüben!«, beschwerte sich ein Schläfer.
    »Selber Schnauze!«, brüllte Blueskin und ließ das Kniegelenk los. Dann wiederholte er seine Worte von vorhin: »Du bist mir was schuldig, Geoff!«
    Geoffs Schreien war zu einem Winseln geworden, es klang wie das Wimmern eines Säuglings. Das Rascheln des Strohs verriet, dass er sich hin und her wälzte. Wieder legte Blueskin seine Hand auf Geoffs Knie, diesmal auf das rechte. Der Alte fuhr panisch zurück und bat: »Nicht wehtun, Blueskin. Bitte nicht wehtun!«
    Blueskin ließ von Geoff ab. Vielleicht weil ihn die flehentlichen Worte an Hope erinnert hatten. Das Gleiche hatte seine Schwester gesagt, als er drauf und dran gewesen war, Henry die Kehle durchzuschneiden. Auch ein Ingram, wie Blueskin jetzt auffiel. Womöglich waren sie sogar verwandt? Verrückt waren sie jedenfalls beide.
    »Morgen ist Sonntag«, sagte Blueskin und streichelte das Knie, als hätte er nie etwas anderes damit vorgehabt. »Besuchszeit. Um zehn Uhr. In Moorfields.«
    »Mr. Wild wartet auf dich«, zischte Geoff zwischen den Zähnen.
    »Ich bin tot«, lachte Blueskin, »weißt du doch.«
    »Hältst du ihn wirklich für so dämlich?«, schnaufte Geoff verächtlich. »Dann wärst du dümmer, als ich dachte.«
    Blueskin schluckte und schüttelte den Kopf, obwohl das in der Dunkelheit nicht zu sehen war. Er dachte an Mr. Wilds Männer auf seiner Beerdigung. Vielleicht hatten sie gar nicht nach Jack, sondern nach ihm, Blueskin, Ausschau gehalten. Er wehrte den Gedanken ab, klopfte auf Geoffs Holzbein, das nutzlos auf dem Boden lag, und wiederholte: »Morgen früh um zehn. Sonst komme ich wieder.«
    »Ay, Ma’am«, knurrte Geoff und setzte leise, aber doch vernehmlich

Weitere Kostenlose Bücher