Gegen alle Zeit
hinzu: »Molly!«
»Schwachkopf!«, schimpfte Blueskin und stand auf.
Beim Hinausgehen trat er einem Trunkenbold auf den Fuß. Als der sich lautstark und lallend beschwerte, trat Blueskin ein zweites Mal zu. Diesmal mit voller Wucht. Die Beschwerde wurde zu einem Schmerzensschrei. Danach ging es Blueskin besser, und er hastete zur Treppe.
6
Von außen betrachtet erinnerte das Bethlem Royal Hospital eher an einen Palast als an ein Irrenhaus. Die Südseite des Gebäudes stieß gleich neben dem Moorgate an die alte Stadtmauer, die quasi den Abschluss des Geländes bildete, doch auf der Nordseite in Moorfields war das Hospital mit erstaunlichem Prunk und allerlei Verzierungen versehen. Exakt in der Mitte befand sich ein quadratisches Eingangsgebäude, in dessen Fassade mehrere Säulen und verschnörkelte Ornamente eingelassen waren und auf dessen Dach ein mächtiger, mehrstöckiger Turm samt Turmuhr thronte. Flankiert wurde dieses Hauptgebäude von zwei identisch aussehenden Flügeln, die im Osten und Westen jeweils von einem weiteren quadratischen Säulenbau mit Türmchen abgeschlossen wurden. Das gesamte Bauwerk war völlig symmetrisch und spiegelgleich errichtet. Und auch das monumentale zweiflügelige Tor, das direkt vor dem Haupteingang des Hauses zum Vorplatz führte, war ebenmäßig. Nur die beiden kahlköpfigen Steinfiguren, die links und rechts des schmiedeeisernen Tores eine Art Halbbogen über dem Eingang bildeten, unterschieden sich. Sie stellten die zwei Arten von Geisteskrankheiten dar: auf der rechten Seite der in Ketten gelegte Tobsüchtige mit wildem Blick und verzerrter Miene, auf der linken Seite der verrückte Melancholiker, der vor Trauer und Kummer den Verstand verloren hatte. Jeder Besucher, der Bedlam betreten wollte, musste ihre irrsinnigen Blicke über sich ergehen lassen.
»König Louis hat Gift und Galle gespuckt«, hörte Blueskin die krächzende Stimme eines weiteren Irren hinter sich sagen.
»Du kommst zu spät, Geoff«, sagte Blueskin, der das »Tock, Tock« des Holzbeins auf dem Pflaster schon von Weitem gehört hatte, und deutete zur Turmuhr.
»Gift und Galle«, wiederholte Geoff und setzte lachend hinzu: »Aber er hat sich mit ’ner Kloake gerächt. Keine schlechte Idee, oder?«
»Wovon, zum Teufel, redest du?«, knurrte Blueskin und zupfte sich die zu engen Handschuhe zurecht. »Was denn für eine Kloake?«
»Bedlam wurde nach ’nem Schloss von König Louis erbaut«, antwortete Geoff und ging zum bewachten Gittertor voraus, ohne sich nach Blueskin umzuschauen. »Tullery oder so ähnlich. In Frankreich. Hat dem König dort natürlich gar nicht gefallen, dass sein Palast als Vorbild für ’n Irrenhaus herhalten musste. Also hat er ein Scheißhaus in seinem Schloss errichten lassen, das genauso aussieht wie der Palast von St. James.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Nay, im Ernst. Seitdem kacken die französischen Könige in einem Nachbau der Residenz der englischen Könige.« Wieder lachte der irre Geoff und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Haste Geld? Kostet ’nen Penny pro Nase.«
»Daran soll’s nicht scheitern«, antwortete Blueskin und reichte ihm zwei Silberpennys. In der Nacht, gleich nachdem er aus Mutters Gin-Shop verschwunden war, hatte er sich zu seinem Versteck in St. Giles begeben und die wenigen Wertsachen, die er besaß, an sich genommen. »Du bezahlst!«
»Ay, Ma’am«, kicherte Geoff und lüpfte seinen Dreispitz.
»Halt’s Maul!«, zischte Blueskin.
»Geht nicht«, antwortete Geoff flüsternd, »denn wenn du das Maul aufmachst, sperren sie dich gleich weg.« Er wandte sich an den Wachmann vor dem Tor und reichte ihm die beiden Pennys. »Für mich und die Missis.«
»Morgen, Geoff«, meinte der Wachmann, steckte die Münzen in ein Holzkästchen, gab ihm zwei handtellergroße Billetts im Tausch und klopfte ihm auf die Schulter. »Haste Heimweh nach Bedlam?«
»Bin nur Fremdenführer«, antwortete Geoff und wies mit dem Daumen auf Blueskin. »Verdien mir ’n bisschen was dazu. Kenn mich ja aus.«
»Allerdings«, lachte der Wachmann und wandte sich dann an die verschleierte Frau: »Kein schöner Anblick, Ma’am. Den Schleier werdet Ihr nicht brauchen, da drin ist’s duster wie im Erdloch. Und haltet Euch ein Tuch vor die Nase!«
»Sie versteht kein Wort«, mischte sich Geoff ein.
»Taub?«
»Französin.«
»Ach so«, antwortete der Wachmann und runzelte die Stirn. »Kommen jetzt immer häufiger Ausländer her, um unsere
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