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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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antwortete Blueskin. Ein leises Kratzen war zu hören, dann ein ebenso leises »Klick!«, und schließlich drückte Blueskin auf die Klinke und öffnete die Tür einen Spaltbreit.
    Nur wenige Schritte entfernt sahen sie Quilt Arnold und Bess hinter dem Grabmal kauern und den Friedhof beobachten, wo Mr. Wild nach wie vor seine Runden drehte. Die Tür zur Sakristei beachtete niemand mehr.
    Blueskin schloss die Tür wieder und sagte: »Du gehst zum Haupteingang, und wenn die Glocken der Kathedrale zwölf Mal geschlagen haben, betrittst du den Friedhof durch den Steinbogen. Lass die Tür schön laut quietschen, damit ich Bescheid weiß. Pass anschließend nur auf, dass Mr. Wild dich nicht niedersticht oder eine Pistole zückt, um den Rest kümmere ich mich.«
    Henry überlegte eine Weile und stimmte dann zu. Er klopfte Blueskin auf die Schulter, ging zurück in die Kirche und verließ das Gebäude auf der Nordseite, wo er sich in der Toreinfahrt der Cross Keys Tavern versteckte.
    Gern hätte er gewusst, wie spät es nun war und wie lange er noch warten musste, und beinahe automatisch ging sein Blick zu seinem linken Handgelenk, wo einst seine Armbanduhr gewesen war. Acht Tage war das nun her, doch ein ganzes Leben lag dazwischen. Sein Leben! Mittlerweile war Henry nicht mehr davon überzeugt, dass sein Plan – oder wie man es sonst nennen wollte – funktionieren würde. Was hatte der Ganove Jonathan Wild mit dem Schauspieler Sean Leigh zu schaffen? Ebenso wenig wie Henry Ingram mit Jack Sheppard. Oder Sarah mit Edgworth Bess. Was würde der Showdown – wenn es denn überhaupt einer werden würde – mit dem Diebesfänger bringen? Was würde er ändern? Henry fühlte sich wie in einem Western, wo das Schicksal einer Frau durch ein tödliches Duell unter Männern entschieden wurde. High Noon um Mitternacht.
    Endlich schlug es zwölf! Henry hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, und war dennoch froh, endlich handeln zu können und nicht länger warten zu müssen. Er überquerte in großen Schritten die Straße, und als die Glocken von St. Paul verklungen waren, lehnte er sich mit dem Oberkörper gegen die Gittertür unter dem Steinbogen und ließ sie ordentlich kreischen.
    Der Diebesfänger stand an dem offenen Grab, das die Totengräber am Nachmittag ausgehoben hatten. Nach dem Austausch einiger fadenscheiniger Höflichkeiten und nachdem Mr. Wild sein silbernes Schwert abgelegt hatte, hielt ihm Henry den verräterischen Brief vor die Nase.
    Mr. Wild reagierte genau so, wie Henry es erwartet hatte. Er grinste schief und befahl: »Knall ihn ab, Quilt!«
    Henry stockte der Atem; er erwartete seinen Tod. Doch nichts geschah, keine Kugel zerschmetterte ihm den Schädel. Blueskin hatte Wort gehalten. Er hatte sich um den Rest gekümmert.
    »Niemand da?«, fragte Henry betont lässig.
    Mr. Wild wollte sich auf sein Schwert stürzen, doch auch das hatte Henry vorhergesehen und die Waffe schon an sich genommen.
    »Ihr habt gewonnen, Captain«, sagte Mr. Wild schließlich kleinlaut, hob die Hände und warf ihm Sarahs Ring zu. Doch während Henry nach dem Ring schnappte, bückte sich Mr. Wild plötzlich und schnellte wieder in die Höhe.
    Und alles geriet durcheinander.
    Etwas Schwarzes kam auf Henry zugesaust. Wie aus dem Nichts. Ein Spaten. Oder eine Eisenstange.
    Eine Frau rief: »Nein! Nicht!«
    Henry schaute zu Bess, doch sie war nicht mehr da. Stattdessen sah er Sarahs entsetzten Blick und ihre vor Schreck erhobenen Hände. Und vor ihm stand nicht Jonathan Wild, sondern Sean Leigh, mit blutiger Nase, wütendem Gesichtsausdruck und einer Eisenstange in der Hand.
    Zwei betrunkene Männer im Kampf um eine Frau.
    »Wir klären das jetzt, ein für alle Mal!«
    Wie in Zeitlupe landete die Eisenstange an seiner Schläfe, und gleichzeitig mit der Explosion in seinem Schädel kam die Erkenntnis: Nicht Henry hatte in jener Nacht zugeschlagen, sondern Sean Leigh. Henry war nicht der Täter, sondern das Opfer gewesen. Er hatte niemanden getötet. Er war getötet worden.
    Das Knacken von Knochen. So laut und lärmend, als wären es die eigenen!
    »Du hast ihn umgebracht!«
    Eine dunkle Pfütze aus Blut auf dem Sandweg im Postman’s Park, eine rostige Eisenstange auf dem Boden. Sarah mit dem Handy in der Hand.
    »Kommen Sie schnell, ich glaube, er stirbt.«
    Sirenen, die sich näherten und lauter wurden. Blinkendes Blaulicht in den Baumwipfeln und am Glockenturm von St. Botolph.
    Dann Dunkelheit. Und Stille.

3. Henry

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