Gegen alle Zeit
Einbildung war (dass es sich bei alldem um eine Fernsehshow oder eine bloße Nachbildung handelte, konnte er inzwischen getrost ausschließen), wo befand er sich dann tatsächlich? War es überhaupt möglich, sich all diese Leute und Orte in sämtlichen historischen Details vorzugaukeln? Wer war die Frau, die just in diesem Augenblick im Nachbarraum ihrem Beruf nachging und sich geräuschvoll von einem Freier besteigen ließ? Und konnte es wirklich ein Zufall sein, dass es ihn in dieses Hurenhaus in Little Britain verschlagen hatte? Ausgerechnet Little Britain! Die Straße, in der Sarah wohnte! Oder besser: in dreihundert Jahren wohnen würde.
Vielleicht hatte Bess recht gehabt, als sie vorhin gemutmaßt hatte, Henry sei womöglich auf der Flucht. Und sie wolle gar nicht wissen, vor wem und aus welchem Grund er Reißaus genommen habe. Nach ihrem Entkommen aus dem Black Lion Inn waren sie wie in einem Labyrinth quer durch St. Giles-in-the-Fields gegangen, und Henry war der Hure wie ein Dackel seinem Frauchen hinterhergetrottet. Nachdem sie sich unbemerkt vom Dach des Theatre Royal gerettet hatten, hatte sich die Gruppe von Gaunern rasch aufgelöst. Blueskin hatte sich als Erster verabschiedet und Henry lediglich zugeraunt, er solle am Abend zu Mutter Blakes Gin-Bude kommen, um sich seinen Anteil von der nächtlichen Beute abzuholen. »Wenn du dich traust«, hatte er mit schiefem Grinsen hinzugefügt.
Die Zwillinge George und Godfrey waren kurz darauf in die entgegengesetzte Richtung davongelaufen und hatten sich mit einem lapidaren »Wir sehen uns!« verabschiedet. Und Henry war Bess anschließend durch das Gewimmel von Gassen und Höfen gefolgt, bis er jegliche Orientierung verloren hatte.
»Wo willst du hin?«, hatte Bess ihn schließlich angeschnauzt, als sie einen großen, von herrschaftlichen Häusern gesäumten Park oder Garten erreicht hatten, bei dem es sich vermutlich um Lincoln’s Inn Fields handelte. »Warum läufst du mir hinterher? Hast du kein Zuhause?«
»Keine Ahnung«, entgegnete Henry.
»Du bist ’n komischer Vogel, weißt du das?«
Henry nickte und sagte: »Ich gehör hier nicht hin.« Er deutete auf den Park, den er als große, mit Bäumen bestandene Liegewiese kannte, der nun aber wie eine ringsum bewehrte und verriegelte Gartenanlage erschien. »Mir ist das alles völlig fremd. Ich kenn mich nicht aus.«
»Dann geh dahin zurück, wo du hergekommen bist.«
»Liebend gern«, antwortete er. »Aber das geht leider nicht.«
»Bist auf der Flucht, was?«
In dem Moment, als sie es ausgesprochen hatte, wusste er, dass Bess damit der Wahrheit näher kam, als sie ahnen konnte. Ja, er war auf der Flucht. Er hatte sich zunächst in den Alkoholrausch und dann in die Vergangenheit geflüchtet, weil er die Gegenwart nicht mehr ertragen konnte. Oder weil die Gegenwart für ihn zu bedrohlich geworden war? Henry stutzte. Was mochte bedrohlicher sein als der Umgang mit Räubern, Dieben und Messerstechern, die ihn für einen Spitzel hielten und ihm nach dem Leben trachteten? Nein, das ergab alles keinen Sinn. Doch dann hatte er plötzlich wieder dieses Bild vor Augen, das ihm heute schon mehrmals wie ein Spuk durch den Kopf gegangen war: blutige Hände! Wie ein Blitzlicht war das Bild aufgetaucht und ebenso schnell wieder verschwunden. Seine Hände, rot von Blut, ohne dass er irgendwo am Leib eine Wunde hatte. Und er hatte keine Ahnung, wo das Blut hergekommen war. Wenn es sich denn überhaupt um Blut handelte.
»Also was jetzt?«, riss Bess ihn aus seinen Gedanken. »Was hast du vor?«
Henry zuckte mit den Schultern und sagte: »Ich hab Kohldampf.« Als er Bess’ verständnislosen Blick sah, verbesserte er sich: »Hunger. Mein Magen knurrt. Und ich bin müde und würde mich gern ins Bett legen.«
»Komm bloß nicht auf Gedanken«, erwiderte Bess lachend und schüttelte den Kopf. »In mein Bett kommst du nur, wenn du dafür bezahlst.« Sie zögerte einen Augenblick, schien mit sich zu ringen und sagte dann: »Aber ich kann dir ein Zimmer besorgen, wenn du willst. Für ein paar Tage jedenfalls, und nur, wenn es dir nichts ausmacht, in einem Hurenhaus zu schlafen.«
Diesmal war es Henry, der lachte und den Kopf schüttelte.
»Heißt das Ja oder Nein?«
»Ja.«
»Dann komm!«
Es war inzwischen früher Abend. Die Sonne stand tief über dem Viertel von St. Giles und warf lange Schatten vor ihre Füße. Von Lincoln’s Inn Fields aus gingen sie in östlicher Richtung, bis sie schließlich wieder auf
Weitere Kostenlose Bücher