Gegen alle Zeit
das Flüsschen Fleet stießen, das an dieser Stelle nach Süden hin unterirdisch verlief, was den bestialischen Gestank ein wenig milderte. Wie bei seinem Gang durch die Fleet Street erkannte Henry nichts von seinem London wieder, und nur einige Kirchen, augenscheinlich neu errichtet, kamen ihm vage bekannt vor. Auch als sie den riesigen Viehmarkt von Smithfield und daneben das Krankenhaus von St. Bartholomew erreichten, erkannte er das nur daran, dass sich über dem Nordeingang des Krankenhauses die berühmte Statue Heinrichs VIII. befand. Die einzige Statue des Tudor-Königs, die noch heute in London zu bewundern war.
Hinter dem Krankenhaus, das von allen nur liebevoll »Barts« genannt wurde, stießen sie auf die alte Stadtmauer. In deren Schatten sah Henry eine Art Grube von der Größe eines Fußballfelds, die mit allerlei Unrat, Kadavern und Exkrementen gefüllt war. Und dieser stinkenden Grube näherte sich Bess nun.
»Was, zum Teufel, ist das?«, fragte Henry und hielt sich die Nase zu.
»Der Town Ditch«, antwortete Bess und betrat einen Trampelpfad, der sich direkt zwischen der Rückseite des Krankenhauses und dem Rand der Grube befand. »Der alte Stadtgraben ist aber inzwischen nichts weiter als ein öffentlicher Misthaufen. Angeblich haben sie früher die Pestkranken aus dem Krankenhaus hier verscharrt.« Als sie Henrys pikierten Blick sah, machte sie eine verächtliche Miene und rief: »Jetzt hab dich nicht so! Ist ’ne Abkürzung. Oder willst du etwa durchs Newgate und den Wärtern in die Arme laufen? Ganz London sucht nach dir, das ist dir doch klar, oder?« Sie deutete nach Nordosten und setzte hinzu: »Komm schon, es ist nicht mehr weit. Auf der anderen Seite ist Little Britain, gleich neben dem Friedhof von St. Botolph.«
»Little Britain?«, entfuhr es Henry. »Was willst du denn da?«
»Dort wohne ich«, sagte sie und lachte. »Und du auch! Oder hast du es dir anders überlegt?«
Henry war wie vor den Kopf geschlagen, seine Knie zitterten, und er hatte Mühe, sich auf dem schmalen Trampelpfad zu halten und nicht seitwärts in die Grube zu stürzen. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Er kam sich vor wie in einem schlechten Witz, über den er nicht lachen konnte.
Vom Town Ditch führte ein weiterer Pfad durch einen schmalen Torbogen zu einem Hinterhof, der laut einem Holzschild über dem Eingang »Pelican Court« hieß. Obwohl er noch nie hier gewesen war und heutzutage nichts mehr von diesem Hof und seinen schäbigen Fachwerkbauten übrig war, wusste er sehr genau, was es mit dem »Pelican Court« auf sich hatte. Sarah hatte es ihm erzählt. Sie engagierte sich in einem gemeinnützigen Verein, der sich mit der Geschichte ihrer Nachbarschaft beschäftigte und den albernen Namen »Friends of Little Britain« trug. Sarah hatte ihm voller Stolz erzählt, in der Gegend habe es früher einmal eine ganze Kolonie von Druckereien, Verlegern und Buchhändlern gegeben, und einer dieser Verlage, der sogenannte »Pelican«, habe sich auf alchemistische und sonstige obskure Schriften spezialisiert.
»Wo genau wohnst du?«, fragte Henry, obwohl er die Antwort zu wissen glaubte.
»Cross Keys«, sagte Bess, als sie durch die Hofeinfahrt auf die Straße traten.
»Cross Key Square«, murmelte Henry und nickte abwesend.
»Nein, Cross Keys Tavern«, verbesserte Bess und deutete auf ein unscheinbares dreistöckiges Gebäude auf der Nordseite der Straße, schräg gegenüber der Kirche von St. Botolph.
Sarah wohnte in 1 Little Britain, City of London EC1A, so jedenfalls lautete die korrekte Post-Adresse, doch alle nannten das Gebäude nur das »White Horse House«, benannt nach einer Kneipe, die sich dort einmal befunden hatte. Das Haus stammte aus dem späten 19. Jahrhundert und war aus rotem Backstein erbaut, mit zahlreichen Erkern, geschwungenen Fenstersimsen und breiten Querstreben aus hellem Sandstein. In einen dieser Sandsteine, zwischen dem zweiten und dem dritten Obergeschoss, war der Name der Kneipe eingemeißelt: »The White Horse«. Und über der Hofeinfahrt wies eine weitere Inschrift auf den dahinterliegenden Hof: »Cross Key Square«.
Welch einen Unterschied bot das gutbürgerliche viktorianische Haus mit dem verspielten Backsteingiebel und den säulenartigen Verzierungen zu dem schmucklosen und gedrungen wirkenden Haus, vor dem Henry nun stand. Er schaute auf die andere Seite der Straße. Zwar sah die Kirche von St. Botolph ganz anders aus, als er sie in Erinnerung hatte, und wo
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