Gegen alle Zeit
durch die City, doch dafür hätte er zwei Stadttore passieren müssen. Und es stand zu befürchten, dass die Tore bewacht waren und alle Nachtwächter und Konstabler Londons nach ihm Ausschau hielten. Oder nach einem Captain Macheath, der der Hure Edgworth Bess dabei geholfen hatte, ihren Geliebten Jack Sheppard aus dem Newgate zu befreien. »Ganz London sucht nach dir«, hatte Bess vorhin gesagt und damit vermutlich nicht einmal übertrieben.
Henry musste unwillkürlich schmunzeln, denn wenn er es recht bedachte, dann hatte er heute Nachmittag den Namen Macheath in die Annalen der Stadt eingetragen. Und John Gay, der in wenigen Jahren die Bettleroper schreiben würde, hatte womöglich nur deshalb seinem Helden den Namen Macheath gegeben. Aber das war doch alles absurd!
Henry beschloss, die City und die Stadttore zu meiden und sich entlang der Mauer bis zum East End vorzuarbeiten. Er folgte einer relativ breiten Straße, machte Bögen um Cripplegate und Moorgate, passierte das berüchtigte Irrenhaus von Bedlam, das direkt in die alte Stadtmauer eingebaut war, und stieß schließlich südlich von Bishopsgate auf den Hounds Ditch. Wenn es stimmte, was Bess über den Town Ditch auf der anderen Seite der City gesagt hatte, dann wollte er gar nicht wissen, woher der Stadtgraben an dieser Stelle seinen Namen hatte und was darin verscharrt lag.
Bald hatte er den Tower erreicht, und von dort war es nur noch ein Katzensprung bis zu Mutter Blakes Gin-Shop. Allein bei dem Gedanken drehte sich ihm der Magen um, allerdings wusste er nicht, ob vor Ekel oder Hunger. Er hatte den ganzen Tag keinen Bissen zu sich genommen. Und Durst hatte er obendrein. Allerdings nicht auf Mutter Blakes Wacholderfluch.
»Wenn du dich traust«, hatte Blueskin gesagt. Doch was blieb ihm anderes übrig? Jetzt war ohnehin alles zu spät, und er hatte keine Ahnung, was er sonst hätte tun sollen.
7
Die Gin-Absteige von Mutter Blake war anders als jeder Pub, den Henry bislang betreten hatte. Auch mit dem Black Lion Inn hatte sie nur den Ausnüchterungskeller und das Schild über der Tür gemein. Davon abgesehen war die Kneipe ein ganz normales, wenn auch reichlich heruntergekommenes Wohnhaus, mit einer winzigen Küche, einer Wohnstube und etlichen Räumen, die noch entfernt als Schlafzimmer oder Rumpelkammern erkennbar waren. Außer in der Stube gab es nirgendwo Tische oder Bänke. Die Gäste saßen auf dreibeinigen Hockern oder gleich auf dem Boden, der an einigen Stellen mit Stroh oder Heu ausgelegt war. Im ganzen Haus roch es modrig, nach vergorenem Getreide und Wacholdersud, und an dem riesigen Kupferkessel auf dem Herd erkannte Henry, dass Mutter Blake ihren Gin selbst brannte. Das Angebot an Getränken war entsprechend überschaubar. Es gab weder Wein noch Bier, dafür Gin im Becher, Gin in der Flasche oder Gin im Eimer. Wobei die Becher derart vor Schmutz starrten, dass Henry sich fragte, ob sie jemals gereinigt wurden oder überhaupt in Gebrauch waren. Der Wacholderschnaps war so billig zu haben, dass es sich nicht lohnte, ihn in kleineren Mengen zu kaufen. Eine Kneipen-Inschrift auf einer berühmten Zeichnung aus dem 18. Jahrhundert kam Henry in den Sinn: »Betrunken für ’nen Penny, sturzbetrunken für zwei Pence, frisches Stroh umsonst.«
Als Henry die hagere Wirtin nach Blueskin und Jack fragte, tat sie zunächst ahnungslos und schüttelte den Kopf, der übrigens keinerlei Blaufärbung aufwies. Was auch immer Blueskins dunkle Hautfarbe verursacht hatte, seine Mutter hatte sie ihm nicht vererbt.
»Mein Name ist Henry Ingram«, stellte er sich vor.
»Bist du mit dem irren Geoff verwandt?«, fragte Mutter Blake, lächelte plötzlich und machte einen Kratzfuß. Sie fasste Henry am Ärmel, legte ihren Zeigefinger auf die Lippen und führte ihn durch einen schmalen Korridor zu einem Hinterzimmer, dessen niedrige, kaum brusthohe Tür hinter einem klobigen Kleiderschrank verborgen war.
»Sicher ist sicher«, meinte die Frau und bleckte ihren zahnlosen Kiefer. »Nach dem, was mit Jack passiert ist.«
»Was ist denn mit Jack passiert?«
»Na, was wohl?«, knurrte Mutter Blake und stieß ihren knochigen Zeigefinger in Henrys Brust. »Hier haben Wilds Leute den armen Jack doch geschnappt. Weil die besoffene Bess ihr Maul nicht halten konnte. Treulose Hure! ’nen guten Monat ist das jetzt her. Jacks Pistole ist ihm krepiert, sonst hätten sie ihn niemals erwischt. Niedergeknallt hätte er sie. Verfluchte Bande!«
»Ist Jack
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