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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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heute der adrette Postman’s Park mit seinen Gärten und Bänken zum Dösen und Verschnaufen einlud, befand sich jetzt ein düsterer, von einer hohen Mauer umgebener Friedhof, doch es konnte kein Zweifel bestehen, dies war die Stelle, an der in einigen Jahrhunderten das »White Horse House« stehen würde. Und als bedürfte es noch eines weiteren Beweises, sah Henry in diesem Augenblick das hölzerne Schild, das seitlich neben der Hofeinfahrt hing: Cross Keys Tavern.
    »Worauf wartest du?«, fragte Bess und ging durch die Einfahrt in den Hof, der zu einem lang gezogenen, zweistöckigen Gebäude führte, das an einen Stall oder eine Remise erinnerte. War das Haus an der Straße zwar schlicht, aber doch aus Backstein errichtet, so war dieser Stall aus Holz und Lehm gebaut und schien jederzeit in sich zusammenfallen zu können. Über einer niedrigen Tür hing ein Schild, auf dem zwei gekreuzte Schlüssel zu sehen waren. Ein beliebtes christliches Symbol: die Schlüssel, die Jesus seinem Jünger Petrus zum Öffnen der Himmelspforten übergeben hatte. Doch statt des Himmels erwartete den Besucher ein Hurenhaus. Was für manchen aufs Gleiche hinauslief.
    »Wenn Mutter Needham dich fragt, dann bist du ein Bruder von Deirdre«, sagte Bess und betrat die Taverne. »Deirdre ist für ein paar Tage bei einem Gentleman in Surrey. So lange kannst du ihr Zimmer benutzen. Ich werde das mit Mutter Needham regeln. Sag am besten so wenig wie möglich.«
    Der Schankraum, den sie nun betraten, verdiente diesen Namen kaum. Zwar gab es einen Schanktisch und einen Regalschrank mit Karaffen, Krügen und Bechern, aber für Gäste war kaum Platz in diesem winzigen Raum, dessen einziges Fenster mit Leintuch verhängt war. Nur ein Tisch mit zwei altersschwachen Stühlen stand in der Ecke, doch dort saß niemand, und dem Dreck nach zu urteilen, der auf dem Tisch lag, hatte dort schon lange niemand mehr gesessen. Wer das Cross Keys betrat, trank sein Bier oder seinen Wein nicht im Schankraum, sondern ließ es sich aufs Zimmer bringen.
    »Wer is’n der?«, knurrte eine alte Frau hinter dem Schanktisch. »’n Freier?« Sie war trotz der Hitze in mehrere Lagen aus Seide und Samt gehüllt und trug über ihrer mit Spitze verzierten Haube noch eine Kapuze. Das bleiche Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, war mit schwarzen Schönheitspflästerchen beklebt, welche die zahlreichen Narben und Pusteln auf der Haut nur leidlich bedeckten. Zunächst dachte Henry, es wären Pockennarben, doch dann fand er eine weitaus wahrscheinlichere Lösung: Syphilis! Dafür sprach auch die seltsam verwachsene Nase, die einem Boxer gut zu Gesicht gestanden hätte.
    »Ich bin der Bruder von Deirdre«, sagte Henry und machte unwillkürlich einen Schritt zurück. »Deirdre hat mich …«
    »Hab ich dich gefragt?«, schnauzte die Alte und spuckte dabei in die Kerze, die vor ihr auf dem Tisch stand.
    »Deirdres Bruder Henry«, sagte Bess. »Er ist zu Besuch aus Cumberland.«
    »Wer’s glaubt«, meinte Mutter Needham. »Zwei Shilling die Woche.«
    »Aber Deirdre hat die Miete doch schon bezahlt.«
    »Umsonst ist der Tod.«
    »Sixpence.«
    »Ein Shilling. Aber nur, weil du’s bist, Bess«, knurrte Mutter Needham und hielt die Hand auf.
    Bess kramte einen Lederbeutel unter dem Kleid hervor und drückte der Alten eine Münze in die Hand.
    »Beeil dich«, sagte Mutter Needham. »Der Colonel kommt gleich.«
    »Charteris?«, antwortete Bess erstaunt. »Ich dachte, der ist erst morgen dran.«
    »Vielleicht juckt’s ihn zwischen den Beinen«, sagte die Alte, lachte kläffend und schob die Münze in eine Schublade unter dem Schanktisch. »Ab mit euch!« Und mit skeptischem Blick auf Henry fügte sie hinzu: »Und keine Scherereien!«
    »Ay, Ma’am!« Henry versuchte, wie der Bruder einer Hure aus Cumberland zu klingen.
    Bess nahm ihn an der Hand und führte ihn eine schmale Treppe hinauf und anschließend einen dunklen Gang entlang, von dem links und rechts insgesamt vier Türen abgingen. Mindestens hinter einer dieser Türen glaubte er leises Keuchen oder Stöhnen hören zu können.
    »Kriegst das Geld zurück«, sagte Henry. »Heute Abend noch.«
    »Sicher«, meinte Bess und öffnete eine Tür am Ende des Ganges. »Dein Zimmer. Meins ist gleich nebenan. Schlaf gut!«
    »Du auch«, hätte Henry beinahe gesagt, doch dann murmelte er: »Danke!«
    Bess nickte und verschwand kommentarlos in ihrem Raum.
    Henry betrat Deirdres Zimmer, in dem es zugleich süßlich und muffig roch. Wie

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