Gegen alle Zeit
konnte. Zwar störte es sie, dass Jack zu sehr dem Alkohol zusprach und sein sauer ergaunertes Geld nicht selten am Spieltisch verprasste, doch es war eine schöne Zeit, an die sie sich im Nachhinein gerne erinnerte. Auch wenn sie inzwischen wusste, dass es nur die trügerische Ruhe vor dem Sturm gewesen war. Denn im Herbst 1723 erschien plötzlich Tom Sheppard, Jacks älterer Bruder, im Black Lion Inn, und die Dinge nahmen eine unglückliche Wendung.
2
Tom war drei Jahre älter als Jack und in allem das genaue Gegenteil seines Bruders. Er war groß, kräftig, plump und dumm. Und zu allem Überfluss hatte er sich im August bei einem Diebstahl erwischen lassen, war unlängst am Old Bailey verurteilt worden und kam mit einem nur leidlich verheilten Brandmal auf dem Handrücken ins Black Lion.
»T wie Tom«, meinte er lachend und nahm seinen kleinen Bruder in die Arme.
Tom hatte gehört, dass Jack ihm in krimineller Hinsicht nacheiferte, und beglückwünschte ihn zu seinem Entschluss. Tom schlug vor, sie sollten sich zusammentun und die Einbrüche gemeinsam begehen. Schließlich seien sie Brüder und in gewisser Weise ein eingespieltes Team. »Wie früher in Spitalfields«, meinte Tom und schlug Jack auf die Schultern. »Und Mutter würde sich freuen.«
»Die kriegt doch eh nichts mehr mit«, antwortete Jack lachend.
»Freuen würde sie sich trotzdem«, beharrte Tom.
Bess warnte Jack vor seinem Bruder, aber weil sie außer einem unbestimmten Bauchgefühl nichts gegen Tom vorzubringen hatte, wehrte Jack all ihre Einwände ab. Bess konnte Tom auf Anhieb nicht leiden, sie hielt ihn für einen gefährlichen Dummkopf, der sich nur deshalb an Jack heranmachte, weil dieser mehr Verstand und Talent besaß. Die Verbindung der Brüder brachte Tom sehr viel, Jack hingegen gar nichts ein. Das Brandmal auf seiner Hand beschränkte Toms Betätigungsfeld als Taschendieb merklich, und nur durch Jacks Fertigkeiten war es ihm möglich, an Einbrüchen teilzuhaben, für deren Planung und Ausführung er allein keinerlei Voraussetzung besessen hätte.
»T wie Tom?«, höhnte Bess. »T wie Trottel, das trifft’s eher.«
Tom war wie eine Zecke, die bei ihrem Wirt schmarotzte, sich dann gesättigt davonmachte und eine schmerzende Wunde hinterließ. So jedenfalls sah es Bess, und sie sollte bald erfahren, dass sie mit ihrer Einschätzung nicht ganz falschlag.
Im Dezember brachen Tom und Jack in den Laden einer Leinenhändlerin am Clare Market ein, und wieder beging Bess einen Fehler, indem sie sich auf unbekanntes Terrain begab. Sie willigte ein, vor dem Laden Schmiere zu stehen, während die Sheppard-Brüder den Laden ausräumten, und half anschließend dabei, die Beute zu dem Versteck nahe der Pferdefähre in Westminster zu bringen. Der Einbruch und der Transport der Beute verliefen ohne große Probleme. Das eigentliche Problem war ganz anderer Art und hieß Tom Sheppard. Weil er es nicht abwarten konnte, das erbeutete Gut in bare Münze zu verwandeln, hielt er sich nicht an die Abmachung, erst Gras über die Sache wachsen zu lassen, und bot die Diebesware voreilig und ohne jede Vorsichtsmaßnahme zum Kauf an. Ob er an einen Spitzel des Diebesfängers Jonathan Wild geriet oder was sonst zu seiner Entlarvung führte, war Bess nicht bekannt. Tatsache war jedoch, dass er noch im Januar verhaftet und ihm im Februar der Prozess gemacht wurde.
Tom war vorbestraft, und so drohte ihm nun der Galgen. Die Tat zu leugnen erschien sinnlos, denn es waren Gegenstände aus dem Besitz der Leinenhändlerin bei ihm gefunden worden. So behalf er sich damit, den Einbruch zu gestehen und die Milde der Richter zu erwirken, indem er gegen Jack und Bess aussagte. Sein Bruder und dessen Geliebte hätten den Einbruch geplant, und er, Tom, habe nur als Handlanger gedient. Sein Plan ging auf; statt zum Tode wurde Tom zur Deportation auf die amerikanischen Plantagen verurteilt. Und Jack und Bess wurden fortan per Steckbrief und von allen Diebesfängern in London gesucht.
T wie Tom, T wie Trottel, und wie sich nun erwiesen hatte: T wie traitor .
In dieser misslichen Situation zeigte sich ein weiterer markanter Wesensunterschied zwischen Bess und Jack. Während sie aufbrauste, herumkeifte, mit hochrotem Kopf durch die Wohnung lief und mit Gegenständen um sich warf, bewahrte er nach außen hin die Fassung, verlor kein Wort mehr über seinen Bruder und kanalisierte seine Wut, indem er präzise, pragmatisch und logisch vorging. In seinem Inneren musste es
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