Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
Vom Netzwerk:
unter den wachsamen Augen des Captain Geary. Die Gefahr, erwischt zu werden, war groß, und so bat Jack einen der Besucher, die schwangere Jenny Diver zu holen.
    »Jenny ist nicht schwanger«, meinte der Besucher verwundert.
    »Das lass mal meine Sorge sein«, antwortete Jack augenzwinkernd.
    Jenny Diver hatte sich als Taschendiebin darauf spezialisiert, ihren Opfern ganz offen und dennoch unsichtbar an die Geldbeutel zu gehen. Dazu hatte sie sich ein Kleid geschneidert und am Bauch mit Wolle ausgestopft, das sie wie eine Hochschwangere aussehen ließ. Der eigentliche Witz dieser Verkleidung bestand allerdings darin, dass ein falscher linker Arm samt Handschuh aufgenäht war. Wenn Jenny ihre rechte Hand auf den vermeintlich schwangeren Bauch legte, dann sah es aus, als kreuzte sie die Arme. In Wirklichkeit jedoch war ihre linke Hand unter dem Kleid versteckt und konnte durch eine seitliche Öffnung in fremden Taschen tätig werden.
    Auf diese Weise schmuggelte Jenny eine Feile und einen Handbohrer in die Zelle, und am Abend des Pfingstsonntags, dem 24. Mai 1724, verhalfen diese Werkzeuge Bess und Jack zur Flucht. Zunächst feilte Jack die Kette zwischen den Fußschellen durch, dann machte er sich daran, eine der Eisenstangen am Fenster mit der Feile zu bearbeiten. Das Haupthindernis bestand jedoch in einem mächtigen Eichenbalken, der das Fenster zusätzlich versperrte. Mit dem Bohrer trieb Jack viele kleine Löcher in das Holz, wie Perlen an einer Kette, sodass es ihm schließlich möglich war, ein großes Stück des durchlöcherten Balkens herauszubrechen. Zwar war die Öffnung nun breit genug, doch die Zelle befand sich im obersten Stockwerk des Gefängnisses, 25 Fuß über dem Boden, und an einen Sprung in die Tiefe war nicht zu denken.
    »Da kommen wir nie runter«, sagte Bess, als sie nach unten schaute.
    »Zieh dich aus!«, war Jacks Entgegnung.
    »Was?«
    »Ausziehen!«, befahl Jack lachend. »Das Unterkleid kannst du anbehalten.«
    Er knotete Bess’ und seine eigene Kleidung mit dem Bettzeug zusammen und bastelte daraus ein langes Seil, das er Bess um die Hüften band. Anschließend ließ er sie langsam mit dem Seil hinab, bis sie festen Boden unter den Füßen hatte, band dann das Seil am Rest des Eichenbalkens fest und kletterte selbst hinunter. Dummerweise befanden sie sich nun im Hof des Gefängnisses, umgeben von Mauern, die beinahe so hoch waren wie das Zellenfenster und zudem gespickt mit schmiedeeisernen Nägeln. Doch wieder wusste Jack einen Ausweg, hatte sich das weitere Vorgehen offensichtlich bereits gründlich überlegt. Er schlang einen Teil des zusammengeknoteten Seils um seinen Hals, kletterte wie ein Eichhörnchen an einem Tor hoch, wobei er die Scharniere und Angeln als Fußtritte benutzte, und zog Bess anschließend mit dem Seil zu sich hinauf auf die Mauerkrone. Das war umso erstaunlicher, weil er ja ein äußerst schmächtiger Mann war und Bess eine groß gewachsene und üppige Frau. Doch Jack war kräftiger, als es schien, und was ihm an Muskeln fehlte, ersetzte er durch Willenskraft. Tatsächlich bugsierte er Bess auf die Mauer, befestigte dann das Seil an einem der Eisennägel, sodass sie beide auf der anderen Seite hinunterklettern konnten und mit einem letzten Sprung in der Freiheit landeten.
    War Jack zuvor bereits in ganz London bekannt und berüchtigt gewesen, so wurde er durch diese Flucht endgültig zur lebenden Legende. Die spektakulären Umstände des Ausbruchs und die Tatsache, dass er seine geliebte Bess dabei wie einen eroberten Schatz mitgeschleppt hatte, brachten ihm höchste Anerkennung und aufrichtige Ehrerbietung nicht nur der Gauner und Huren ein. Selbst angesehene Bürger, darunter einige Angehörige der schreibenden Zunft, zollten dem entflohenen Häftling ihren Respekt, auch wenn sie dies nur hinter vorgehaltener Hand oder unter einem Pseudonym taten. Er war nun »Jail-breaker Jack«, der ungekrönte Ausbrecherkönig von London.
    Auch Bess war beeindruckt von ihrem Jack. Allerdings war es nicht allein der Ausbruch selbst, der ihre Achtung vor ihm auf ein Höchstmaß steigen ließ, sondern vor allem die gemeinsam verbrachte Zeit in der Zelle in Clerkenwell. Was Bess ein ums andere Mal erstaunte, war die Selbstverständlichkeit und Unbekümmertheit, mit der Jack bis zum Schluss an ein gutes Ende geglaubt hatte. Nie verließ ihn der Mut, selten verlor er seine gute Laune, stets schaffte er es, alles in einem günstigen Licht zu sehen und darzustellen. Die Tage im

Weitere Kostenlose Bücher