Gegen alle Zeit
Wieso sollte ausgerechnet sie Albrecht Niemeyer helfen? Weshalb war er überhaupt auf Hilfe angewiesen? Und was hatte das mit Frankreich zu bedeuten? Bess war völlig durcheinander und schüttelte den Kopf: »Wo ist Albrecht?« Zum ersten Mal seit damals nannte sie ihn beim Vornamen. »Ihr müsst es mir sagen! Ich muss es wissen!«
Mr. Pepusch setzte sich auf die oberste Stufe der Stiege, neigte resignierend den Kopf zur Seite und sagte: »Ich habe nicht mit Euch gesprochen, verstanden?«
Bess stutzte zunächst und nickte dann.
»Kennt Ihr das Olde Cheshire Cheese in der Fleet Street?«
»Ay, Sir«, log sie. Sie kannte es nicht, aber sie würde es finden.
»Über dem Gasthaus befindet sich eine Druckerei. Sie gehört einem gewissen Mr. Wilkins. Albrecht wohnt bei ihm zur Untermiete. In der Dachstube.« Er hob den Kopf und schaute Bess eindringlich an. »Aber seid vorsichtig!«
»Danke.« Bess wollte an dem Kapellmeister vorbei die Treppe hinunter, doch er hielt sie am Rockschoß fest und schüttelte den Kopf.
»Ihr wisst nicht, worauf Ihr Euch einlasst«, sagte er und hielt ihren Saum umklammert, als hinge sein Wohlergehen davon ab. »Geht nach Hause, Mrs. Lyon, wenn Euch Euer Leben lieb ist.«
Jetzt erst begriff Bess. »Der Mann, der Euch überfallen hat«, sagte sie und hob abwehrend die Hand, als Mr. Pepusch ihr das blutige Tuch zurückgeben wollte. »Hell and Fury. Was wollte der von Euch?« Und mit einem Schrecken setzte sie hinzu: »Wen hat er gesucht?«
»Albrecht Niemeyer war heute ein gefragter Mann«, antwortete der Kapellmeister und lächelte bitter. »Wie zu seiner besten Zeit.«
In diesem Augenblick erklang aus dem Zuschauerraum eine männliche Stimme: »Maestro Pepusch? Wo seid Ihr? Hallo! Ist da jemand?«
Und eine zweite Stimme rief: »Wo stecken denn alle? Maestro Pepusch?!«
Bess riss sich los, lief die Stiege hinunter und rannte zur Bühnentür hinaus.
»Ein gefragter Mann«, lachte Mr. Pepusch, dann fiel die Tür ins Schloss.
Draußen in der Gasse stieß Bess beinahe mit dem einbeinigen Bettler zusammen, der direkt vor der Bühnentür auf dem Boden saß und sie seltsam grinsend anschaute.
»Keine Probe. Ay, Ma’am?«, krächzte der Mann.
Bess hätte ihm am liebsten das dumme Grinsen aus dem Gesicht geschlagen, doch dann beachtete sie ihn nicht weiter und versuchte sich zu orientieren. Schließlich wandte sie sich nach Osten. Dies war der Weg, den der Schwarzgekleidete gegangen war.
7
Während Bess auf der Fleet Street in Richtung Stadtmauer ging, schwirrte ihr der Kopf, als schwärmte darin ein Bienenvolk. Immer wieder sagte sie zu sich: »Euer Mann hat sich selbst gerichtet.« Es war ihr egal, dass sie die Worte des Kapellmeisters laut aussprach und die Passanten sie argwöhnisch beäugten. Konnte Mr. Pepusch tatsächlich so unwissend sein? Oder war er vielmehr der Wissende und sie, Bess, die Dumme? »Ihr begreift überhaupt nichts«, hatte der Kapellmeister gesagt. Oh, wie recht er damit hatte. Sie verstand es einfach nicht.
Nur wenige Monate hatte ihre Liebschaft mit Albrecht Niemeyer gedauert, doch wie folgenschwer und fatal waren die Konsequenzen für alle Beteiligten gewesen! Vor nunmehr drei Jahren hatte alles angefangen. Elizabeth war damals seit etwa einem halben Jahr mit Matthew Lyon verheiratet gewesen und hatte sich in den jungen deutschen Oboisten verliebt, ohne auch nur ein einziges persönliches Wort mit ihm gewechselt zu haben. Nur sein Aussehen und seine Musik hatten dies bewirkt. Heute kam ihr das kindisch und dumm vor, aber genau so war es geschehen.
Bis zum Sommer 1721 hatten sich die Dienstmagd und der Oboist nur aus der Ferne gesehen und nie mehr als beiläufige Blicke und leichtes Kopfnicken ausgetauscht. Anders als Mr. Pepusch oder auch Mr. Gay wohnte Mr. Niemeyer nicht in Cannons House, sondern in einem Gasthof in Little Stanmore, auf halbem Wege nach Edgworth, wo die meisten der herzoglichen Musiker untergebracht waren. Zum ersten Mal Aug in Aug und auf Armeslänge gegenüber standen sich Elizabeth und der Musiker bei einem der Treffen des Scriblerus Clubs. Wie stets bei diesen Anlässen war Elizabeth damit beauftragt worden, die Gentlemen zu bedienen, doch bei dieser Zusammenkunft war vieles anders als sonst. Mr. Gay fehlte, obwohl er als Bewohner von Cannons House bei allen bisherigen Treffen zugegen gewesen war, dafür waren mit Mr. Pepusch und Mr. Niemeyer gleich zwei deutsche Musiker der herzoglichen Kapelle anwesend. Das
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