Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
Vom Netzwerk:
Ergebnissen die Historikerkommission gelangen würde.
    FISCHER    Ich ging fest davon aus, dass es so kommt. Ich kannte ja die Bücher von Hans-Jürgen Döscher. Über den hieß es im Amt immer, er vertrete eine extravagante Randmeinung und stecke voller Vorurteile. Als dann der Kommissionsbericht erschien, hieß es plötzlich, da steht ja gar nichts Neues drin, das steht ja alles schon bei Döscher. Hat aber seinerzeit niemand zur Kenntnis nehmen wollen.
    STERN    Was mir bei der ganzen Debatte um den Kommissionbericht nicht gefiel, war der Vorwurf, der auch von einigen seriösen Historikern erhoben wurde, die Kommission habe sich für politische Zwecke instrumentalisieren lassen. Das Ergebnis habe von vornherein festgestanden. Dieser Vorwurf rührt an die Substanz unserer Zunft, er geht sozusagen gegen die Berufsehre.
    FISCHER    Ich kenne diese Unterstellungen, aber das Gegenteil war der Fall. Ich habe gesagt, dass ich die Wahrheit wissen wollte, nichts als die Wahrheit, und deswegen habe ich auch Klaus Hildebrand berufen und für eine ausgewogene internationale Besetzung gesorgt. Dass am Schluss kein Persilschein ausgestellt wurde, liegt nicht an mir oder an den Forschern, sondern schlicht an der Realität.
    STERN    Die Vehemenz der öffentlichen Reaktion hat mich einigermaßen überrascht. Aufgrund verschiedener Kontroversen in der Vergangenheit war mir allerdings ziemlich klar, wie gereizt die Deutschen immer noch auf solche Publikationen reagieren und wie unangenehm die Diskussion dann werden kann. Ich glaube, in der Breite hat das Buch vor allem deshalb eine solche Wirkung erzielt, weil es um «die da oben» geht, um eine Gruppe, die für besonders vornehm gehalten wird und die von jeher zu den Eliten des Landes zählt.
    FISCHER    Ja, so verstehen die sich. Aber wenn das unsere Elite ist, dann wandere ich aus, dann ist es um Deutschland geschehen. Sechzig Jahre nach dem Krieg regen die sich über Dinge auf, die ihren Großonkel betreffen. Ich frage mich wirklich: Warum treibt die das so um? Warum dieser Froschaufstand? Die konnten doch nichts gewinnen. Und die Biografien waren nun einmal nicht so, dass man dafür ungestraft auf die Barrikaden gehen konnte.
    STERN    Das Bild, das mit dem Kommissionsbericht gewissermaßen offiziell geworden ist, widersprach in solchem Maße ihrer Selbstwahrnehmung, dass man schon von einer Kränkung reden kann. Die Institution, die für viele seit Generationen ein wichtiger Bezugspunkt ihrer sozialen Orientierung war, stand plötzlich unter Generalverdacht. Ich glaube, Ehre ist das entscheidende Stichwort in dem Zusammenhang …
    FISCHER    Bei einem Angehörigen der SS komme man mir nicht mit der Ehre!
    STERN    Und dann natürlich die Tatsache, dass an der Spitze des Ministeriums ein Mann stand, der sich seiner eigenen Vergangenheit, wenn ich so sagen darf, nicht gestellt hat.
    FISCHER    Ich war nicht in der SS.
    STERN    Aber Sie haben Steine geworfen.
    FISCHER    Ja, Entschuldigung. Die hätten genauer hingucken sollen, dann hätten sie gewusst, was ich für ein Typ bin und dass ich einer Keilerei eigentlich nie aus dem Weg gegangen bin in meinem Leben. Die haben den Steineschmeißer völlig falsch eingeschätzt, sonst hätten sie niemals einen öffentlichen Vorgang aus den Nachrufen gemacht. Man muss sich doch fragen, was in dem Kopf von Leuten vorgeht, die einen Nachruf im amtsinternen Blättchen, das niemand liest außer ihnen selbst, für so wichtig nehmen, dass sie sagen: Hier ist die Grenze, hier geht es jetzt ums Ganze. Darin kam für mich die Lebenslüge einer ganzen Institution zum Ausdruck. In meiner Realitätswahrnehmung existierte ein solches Deutschland nicht mehr. Und plötzlich stellte ich fest, in einer entscheidenden Institution des Landes existiert es doch noch! Das war für mich ein Schock, und ich habe mich gefragt, ob ich nicht einen schweren Fehler begangen hatte mit der Anfangsentscheidung, den Apparat nicht wirklich anzufassen und alles so zu lassen, wie es ist.
    STERN    Ich bin nicht überzeugt, dass der Begriff Lebenslüge angemessen ist. Viele Angehörige des Amtes werden bis zu ihrem Lebensende im Stillen gedacht haben: An und für sich wollten wir das Beste für unser Land. Was wir getan haben, war richtig. Und falls wir wirklich Schuld auf uns geladen haben, haben wir sie durch unseren Einsatz nach dem Krieg längst abgetragen. – Einer Ihrer Vorgänger im Amt, Willy Brandt, hat übrigens mit Blick auf

Weitere Kostenlose Bücher