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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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alle Abgeordnete aus dem gleichen Recht; da geht’s nicht nur um Ihren Kopf, da geht’s um viele Köpfe, das ist ein Kollegium. Da müssen Sie auch Autorität entwickeln, aber in einer ganz anderen Form. Wenn Sie in einem Regierungsamt sind, geht es um Ihren Kopf auch dort, wo der Apparat versagt, das ist die Ministerverantwortung. Du bist der Sündenbock, du haftest. Da habe ich viel gelernt in dieser Runde mit den hessischen Umweltexperten und habe mir gesagt, wenn du am Ende entscheiden musst, dann geht’s aber auch in deine Richtung.
    STERN    In Ihren Erinnerungen schildern Sie sehr eindrücklich den 21. April …
    FISCHER    1999? Kosovoeinsatz?
    STERN    Ja, das Treffen im Kanzlerbungalow, Koalitionsrunde …
    FISCHER    Oh, ja, alles wackelte.
    STERN    In beiden Parteien wackelte es gehörig. Sie waren da, Otto Schily, der Kanzler natürlich – an die anderen erinnere ich mich jetzt nicht –, und die Stimmung im Land ist klar gegen einen Einsatz: Wir können da nicht mitmachen im Kosovo.
    FISCHER    Nein, wir waren da bereits mittendrin. Die Bombenkampagne erzielte aber nicht die Wirkung, die man in der NATO erhofft hatte, es existierte kein Plan B und alle kriegten weiche Knie und zitterten.
    STERN    Ja, das schildern Sie sehr eindrucksvoll, und dann schreiben Sie – den Satz habe ich mir unterstrichen: «In dieser bedrohlichen Situation stand der Bundeskanzler wie ein Fels in der Brandung.» An diesem Abend hätten Sie begriffen, was letztendlich einen Kanzler ausmacht.
    FISCHER    Ja.
    STERN    Sie sprachen eben von den Kraftlinien, die durch den Kanzler gehen. Gehen die auch durch einen Minister? Im Grunde ist es ja das gleiche Prinzip nur auf einer anderen Ebene.
    FISCHER    Das gleiche Prinzip, ja. Es kam da schon auf mich an, aber ich war nicht der, auf den alle geguckt haben, und darüber war ich, ehrlich gesagt, froh. Es gibt eine qualitative Differenz zwischen der Rolle eines Ministers und der des Kanzlers. Er ist das Zentrum. Aber ich war mir auch sicher, wenn ich in dieser Situation wäre …
    STERN    Dann hätten Sie es auch durchgestanden? Sie hätten auch wie ein Fels gestanden?
    FISCHER    Ja, sicher, überhaupt keine Frage. Nur war ich nicht in der Situation, und deshalb konnte ich, obwohl ich sehr stark unter Druck war, gut beobachten.
    STERN    Es kann aber auch Situationen geben, in denen man eine Entscheidung treffen muss, die politisch richtig und notwendig ist, die einen aber die Mehrheit kosten kann.
    FISCHER    Das gibt’s. Gab’s auch in meiner Zeit. Schröder war klar, dass die Hartz-IV-Reformen ihn die Mehrheit kosten können, aber uns war auch klar – in dem Fall nicht nur ihm, sondern uns allen –, wenn wir sie nicht machen, dann haben wir garantiert verloren; das Wachstum brach weiter ein, und die Kosten der Arbeitslosigkeit hätten den Haushalt gesprengt. Wir Grünen waren übrigens vor Schröder für solche Reformen, wir hätten sie schon nach der Neuwahl in den Koalitionsverhandlungen 2002 gern gehabt, aber zu diesem Zeitpunkt war er noch nicht dazu bereit. Eichel hat dagegen gekämpft, und wir waren nicht in der Lage, uns durchzusetzen. Als dann im März die Agenda 2010 verkündet wurde, war auch klar, das kann uns die Macht kosten. Und ich behaupte nach wie vor, wenn Schröder nicht die Nerven verloren hätte, dann hätte die Agenda 2010 uns die Macht nicht gekostet. Ich habe ihm immer gesagt: Wenn wir durchhalten und den Wahltag erreichen, dann wirst du noch mal wieder gewählt.
    STERN    Hatte er denn keine Lust mehr?
    FISCHER    Nein, das genaue Gegenteil traf zu.
    STERN    Dann verstehe ich es nicht.
    FISCHER    Gerhard Schröder konnte vieles sehr gut, er konnte nur nicht defensiv spielen. Ich habe zu ihm gesagt, schau dir Ariel Sharon an.
    STERN    Jetzt verstehe ich es noch weniger.
    FISCHER    Sharon war ein Meister des Defensivspiels. Er ging an die Grundlinie und hat die Gegner mit dem Schlagarm der Macht ermüdet, indem er sie unaufhörlich zugedeckt hat. Ich rede vom Tennis. Von der Grundlinie den anderen so lange laufen lassen, bis er umfällt. Für Gerhard Schröder war es ein Albtraum, von anderen abhängig zu sein. Die Vorstellung, dass er von der Parteilinken abhängig ist und diese ihn am Ende kippen könnte, war für ihn unerträglich. Dann lieber alles auf eine Karte setzen und noch mal ein Grand Final. Ich habe das für falsch gehalten und halte das immer noch für falsch. Er

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