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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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ist eine sehr gute Antwort. Verstehe ich vollkommen.
    FISCHER    Das Regieren habe ich in diesen 16 Monaten gelernt, indem ich alles falsch gemacht habe, was möglich war.
    STERN    Und später das Außenministerium, war das nur der Machtbalance geschuldet, wie Sie eben angedeutet haben, oder gab es da einen besonderen Reiz für Sie? Einen Reiz, den ich sehr gut verstehen würde.
    FISCHER    Es war erst einmal eine innenpolitische Entscheidung. Die Tatsache, dass der überlange Außenminister Genscher als Vizekanzler für die FDP das Auswärtige Amt hatte, machte es eigentlich selbstverständlich, dass wir dasselbe Amt haben mussten, wenn wir eine stabile Koalition mit der SPD wollten. Zudem spielte auch meine Erfahrung mit der ersten rot-grünen Koalition in Hessen mit hinein, dass man trotz der unterschiedlichen Größe der Koalitionäre machtpolitisch gleichgewichtig sein musste. Das hieß für mich, wir Grünen müssen im Innern der Macht präsent sein, sonst wäre es immer wieder darauf hinausgelaufen, Schröder gegen die Grünen, und das hätte nicht lange gehalten. Das Hauptproblem im Herbst 1998 lag in der Außenpolitik, nämlich dass ein Krieg im Kosovo drohte. Davon abgesehen, welches von den klassischen Ressorts hätten wir denn nehmen können? Justiz?
    STERN    Ich verstehe das alles. Ich frage lediglich, weil mich interessiert, ob das Außenministerium als solches, abgesehen von den aktuellen politischen Fragen damals, einen besonderen Reiz für Sie gehabt hat.
    FISCHER    Ich schließe daraus, dass Sie in einer solchen Situation, unabhängig von Machtfragen, sich für das Außenministerium entschieden hätten?
    STERN    Ja.
    FISCHER    Nein, Fritz, hier will ich Ihnen eine klare Antwort geben, bei mir hat die Machtfrage Priorität gehabt.
    STERN    Ich habe eben nicht gelernt…
    FISCHER    Die Essenz der Politik ist die Machtfrage. Und die Essenz des Kanzlers ist die Machtfrage. Punkt. Ich habe nun wirklich aus nächster Nähe analytisch beobachten können, ohne dass das Objekt der Beobachtung das groß mitbekommen hat, wie alle Kraftlinien der politischen Entscheidung – alles, was machtrelevant ist, entwickelt ein eigenes Kräftefeld – durch diesen Menschen hindurchgegangen sind. Und er beurteilt alles unter dem einen Gesichtspunkt: Hält das meine Mehrheit aus, ja oder nein? Ich nehme an, beim amerikanischen Präsidenten ist das noch sehr viel intensiver, weil noch sehr viel mehr Kraftlinien durch ihn hindurchgehen. Machtgerecht zu entscheiden ist die Hauptaufgabe des Regierungschefs. Er ist nicht Referatsleiter und er ist auch nicht Fachminister, sondern er verkörpert die Essenz der demokratisch auf Zeit verliehenen, durch Verfassung und Recht gehegten Macht. Und so ist auch die Verfassung konstruiert, ob bei uns oder in Amerika, dass alle Kraftlinien durch den Mann oder die Frau an der Spitze hindurchgehen, Tag für Tag, 24 Stunden.
    STERN    Das erinnert mich an das herrliche amerikanische Beispiel von Lincoln, der sein Kabinett gefragt hat: Machen wir dies oder jenes? Das Kabinett hat sich gegen Lincoln entschieden, und Lincoln hat, wenn ich es recht im Kopf habe, gesagt, also die Mehrheit hat entschieden, das heißt meine Ansicht hat sich durchgesetzt.
    FISCHER    Das nennt man Präsidialkabinett. Als ich Minister in Hessen wurde, dachte ich mir: Fischer, du bist ein ganz schlaues Kerlchen. Du holst dir jetzt die besten Experten, setzt die an einen Tisch und diskutierst mit ihnen alles rauf und runter, so lange bis die Frage geklärt ist. Und dann fragst du die Experten, wie sie es machen würden, und dann gibt es eine Mehrheit unter den Experten, und so machen wir es dann. Gesagt, getan. Wenn ich heute an diese Experten denke – vor allem an den einen, der im südhessischen Dialekt vortrug und einen besonderen Eindruck bei mir hinterlassen hat. «So», sagte ich nach Stunden der Diskussion, «wie machen wir es denn jetzt?» – «Ja, Herr Minister, des müsse schon Sie entscheide, mir könne es so mache, mir könne es auch so mache. Wie mir’s mache, des müsse Sie entscheide.» Ich sagte dann: «Nee, nee, nee, so geht das nicht. Ihr seid die Experten.» – «Ja, aber Sie sind der Minister.» Und da begriff ich plötzlich, dass es nur um meinen Kopf geht, und den wollte ich möglichst teuer verkaufen.
    STERN    Die Diskussion mit den Experten als eine Art Kräftemessen?
    FISCHER    Nein. Aber wenn Sie zum Beispiel eine Fraktion führen, dann sind

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