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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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Die Türken haben dort sehr starke Interessen. Aber Syrien ist natürlich auch für den Iran von ganz entscheidender Bedeutung. Sollte Syrien für den Iran verloren gehen, wäre der Iran isoliert, dann hätte er bis auf die Hisbollah im Libanon und den Irak alle arabischen Bündnispartner verloren. Und die Hisbollah im Libanon wäre ebenfalls isoliert, weil der ganze Nachschub durch Syrien geht.
    STERN    Die Wahrscheinlichkeit, dass Amerika, nach Irak und Afghanistan, noch einmal interveniert, ist nicht sehr groß, obwohl bekannte Neokonservative immer noch dafür plädieren.
    FISCHER    Eine Intervention in Syrien birgt sehr große Risiken, für alle, auch für die Türkei. Deswegen glaube ich nicht an eine schnelle Entscheidung. Allerdings bergen die syrischen Chemiewaffen ein sehr großes Risiko. Damit kann man einen großen Nahostkrieg beginnen oder eine Intervention erzwingen. Sollte die Gefahr bestehen, dass diese Waffen eingesetzt werden oder in die falschen Hände geraten, müssten die USA sofort militärisch eingreifen. Übrigens ein weiteres Beispiel dafür, wie unverzichtbar die Vereinigten Staaten sind.
    STERN    Sind die Beziehungen der Vereinigten Staaten zur Türkei wirklich so gut, wie Sie sagen? Ich habe da meine Zweifel.
    FISCHER    Sehr gut. Ich kann nur noch einmal betonen: Die Türkei ist für die amerikanische Diplomatie, fürs State Department und das Weiße Haus der entscheidende Faktor in der gesamten Region bis hin in die kaspische Region.
    STERN    Aber dann gibt es einen Widerspruch zu der proisraelischen Politik der USA, weil Israel und die Türkei sich entfremdet haben. – Wie sehen Sie die Rolle Russlands in der Region?
    FISCHER    Russland agiert so, wie es agiert, weil es in Syrien einen seiner letzten Einflussfaktoren in der Region sieht. Ich denke, die Russen kalkulieren wie üblich falsch. Am Ende werden sie die Letzten sein, die mit den Bad Guys noch Händchen halten, und dann werden sie den Assad-Clan doch irgendwann irgendwie aus dem Lande expedieren müssen, es wäre ja nicht das erste Mal. Wir hatten im Kreis der Außenminister den Kollegen Iwanow, den ich sehr schätze. Als er sich mal wieder beschwerte, dass immer er es sei, der die «Bösen» außer Landes bringen müsse, sagte Colin Powell: Igor, Du musst Dir einfach andere Freunde suchen. Warum suchst Du dir immer solche Typen aus? (Oh, Igor, you have to look for another kind of friends. Why do you choose these guys as friends?) Also ich glaube, in Syrien verkalkulieren sich die Russen wieder. Weil sie nach wie vor meinen, sie wären die Macht, die sie mal waren, die sie aber nicht mehr sind.
    STERN    Wo liegt der entscheidende Unterschied zu Tunesien und Libyen?
    FISCHER    Erstens ist die syrische Armee nicht die libysche Armee. Syrien war Frontstaat seit der Gründung Israels, seit 1948. Syrien war an allen Nahostkriegen beteiligt. Wir reden über eine hoch gerüstete Armee, eine Armee, die gegen die amerikanische Armee und gegen die israelische sicher keine Chance hätte, die aber doch ein ganz anderes Potenzial hat als die Truppen Gaddafi s. Und zweitens ist das Umfeld ein völlig anderes. Niemand denkt wirklich an eine direkte Intervention im Nahostkonflikt. Es ist halt ein Unterschied, ob du auf einen Baum steigst, auf dem bestimmt kein Hornissennest ist, oder ob du auf einen Ast kletterst, wo du das Hornissennest bereits brummen hörst.
    STERN    Ein schönes Bild, lieber Joschka. Der Unterschied will mir trotzdem nicht ganz einleuchten.
    FISCHER    Wie so oft spielen gerade in humanitären Fragen viele Abwägungen eine Rolle. Und natürlich zählt dazu auch die Frage, welchen Preis bezahlen wir und wie kommen wir da wieder raus. Welche Konsequenzen wird das haben?
    STERN    Das würde im Klartext bedeuten, dass man in Libyen intervenierte, weil man etwas tun konnte, und in Syrien vorsichtig sein muss, weil der Preis zu hoch ist.
    FISCHER    Aber das war doch während des gesamten Kalten Krieges so. Keiner wäre auf die Idee gekommen, 1956 in Ungarn oder 1968 in der Tschechoslowakei einzugreifen. Und heute kommt keiner auf die Idee, bewaffnet in Nordkorea, der schlimmsten Menschenrechtsverletzungsdiktatur, einzugreifen, weil jeder weiß, was das hieße. Aber das macht weder das Prinzip noch die Abwägung hinfällig oder überflüssig. Wir können nicht überall, wir wollen auch nicht überall.
    STERN    Aber wenn die Machtfrage letztendlich darüber entscheidet, wo ich

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