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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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Immigranten aus Europa …
    STERN    Die das wahrscheinlich schärfer sehen. Aber nicht nur sie, Joschka. Ich würde Sie gern nach New York einladen und mit Uramerikanern zusammenbringen, die mit Immigranten überhaupt nichts zu tun haben und die genauso reden wie ich. Ich hoffe, Sie missverstehen mich nicht, ich gehöre nicht zu den Kulturpessimisten, für die früher sowieso alles besser war. Meine Furcht basiert auf der Hoffnung, auf dem Imperativ der Aufklärung: Hört zu, man muss die Freiheit verteidigen. Dazu muss man sich der Wirklichkeit stellen, und die Wirklichkeit ist zum Teil erschreckend.
    FISCHER    Ich verweise nochmal auf China: Kapitalismus ohne Demokratie ist auf Dauer keine Option. Man kann nicht eine starke Mittelklasse entwickeln und der dann erzählen: Ihr dürft alles, nur bei der Politik habt ihr die Schnauze zu halten.
    STERN    Deswegen habe ich gesagt, das Beispiel Singapur ist für mich erschreckend. Ich bin nicht sicher, ob wir wirklich gewappnet sind gegen eine neue autoritäre Versuchung.
    FISCHER    Singapur ist ein Stadtstaat und wird eigentlich wie ein Unternehmen geführt, das muss man klipp und klar sehen, und die Ruhe kann dort auch erkauft werden. Das ist in einem größeren Flächenstaat schon nicht mehr so einfach.
    STERN    Die Ruhe wird nicht nur erkauft, sondern auch erpresst.
    FISCHER    Auch erpresst. Aber es gibt in Singapur nicht nur Peitsche, sondern auch reichlich Zuckerbrot, das darf man nicht vergessen. Grundsätzlich gebe ich Ihnen recht: Demokratie ohne Demokraten funktioniert nicht. Wenn Sie keine Demokraten haben, sondern nur Feinde der Demokratie …
    STERN    Das brauchen keine erklärten Feinde zu sein. Apathische Nichtbürger, Bürger, die den Sinn für das, was den Bürger ausmacht, verloren haben, sind auch Feinde der Demokratie.
    FISCHER    Wenn Sie bedenken, wie lange es gedauert hat von der ersten deutschen demokratischen Revolution 1848 über das Kaiserreich, den gescheiterten Versuch von Weimar, Nazidiktatur, totale Niederlage und Neuanfang bis zur Gründung der Bundesrepublik – das sind gut hundert Jahre. Eigentlich, muss man sagen, hat es bis in die achtziger Jahre gedauert, bis die westdeutsche Demokratie stabil ausgestaltet war, und dann ging es mit der Wiedervereinigung nochmals los, also das ist eine verdammt lange Zeit. Dieser lange Prozess spricht dafür, dass es in China auch noch einige Zeit dauern wird. Damit hier kein Missverständnis aufkommt: Die Kommunistische Partei hat noch lange sich nicht in Richtung Demokratie verabschiedet. Aber der Widerspruch zwischen einer täglich wachsenden chinesischen Mittelklasse und dem politischen System wird immer größer, und der Krebsschaden ist die Korruption, was zu sehr viel sozialer Unruhe führt.
    STERN    Und vergessen Sie nicht das Unrecht, das täglich Millionen widerfährt. Das große Problem für China ist das Fehlen eines Rechtssystems. Die Korruption ist im Übrigen auch bei uns nicht zu unterschätzen, Amerika steht hier vielleicht sogar an der Spitze. Aber immerhin haben wir einen alles in allem funktionierenden Rechtsstaat.
    FISCHER    Da will ich Ihnen mal eine putzige Geschichte erzählen, wie autoritär regierte oder diktatorisch regierte Öl- und Gasstaaten plötzlich zu schätzen wissen, was Rechtsstaat heißt, weil sie die Erfahrung machen, dass in Staaten des «gelenkten Rechts» – um es mal milde zu formulieren –, in Staaten, wo die Macht alles dominiert, Verträge nicht viel wert sind. Wenn die Staatsmacht über ein Projekt den Daumen senkt, dann war’s das, und dann kann man klagen, so viel man will, aber man bekommt nicht Recht. Wenn man aber einen Vertrag auf Zürich oder Genf oder London unterzeichnet, dann gelten die Verträge, und die werden auch durchgesetzt. Deshalb entdecken solche autoritären Regime plötzlich – leider ohne Konsequenzen daraus für sich selbst zu ziehen –, dass es sehr viel attraktiver ist, Geschäfte mit Unternehmen zu machen, die Verträge auf rechtsstaatlicher Grundlage schließen.
    STERN    Mein Eindruck ist, dass die Bedeutung des Rechts nicht nur weltweit zunehmend anerkannt und geschätzt wird, sondern dass wir selber sogar einsehen müssen: Das Recht kommt noch vor der Demokratie. Was man als Erstes braucht, ist ein Rechtssystem.
    FISCHER    Das sagt auch unser Grundgesetz sehr klar, dass es einen unveräußerlichen Kernbestand von Grundrechten gibt, und an erster Stelle steht die

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