Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
wird, werden sie niemals mehr wie das Regime von Mubarak oder Ben Ali unabhängig von der Mehrheitsmeinung der Bevölkerung möglich sein, sondern auf diese Rücksicht nehmen müssen. Zum andern hat der demokratische Input über einen friedlichen Massenprotest seine Wirksamkeit gezeigt, auch das würde ich nicht unterschätzen. Die arabische Welt hat sich auf den Weg ins 21. Jahrhundert gemacht, auch das ist nicht mehr zu bremsen. Die Arabellion ist ein dynamischer Faktor, den man gar nicht hoch genug veranschlagen kann für eine sich verändernde Region, in der Israel im Moment relativ wenig oder kaum Bewegung zeigt, sondern sehr statisch die Dinge beobachtet. Ob das klug ist, da darf man mehr als ein Fragezeichen setzen. Der zweite dynamische Faktor ist Iran, der Kampf um den Golf und der Kampf um die regionale Hegemonie. Und da ist jetzt ein dritter Faktor aufgetaucht, nämlich die sunnitische Türkei unter Erdogan. Das heißt, die Region wird zunehmend strukturiert und dominiert werden durch diesen neuen regionalen Zentralkonflikt – das würde ich nicht unterschätzen. Die Türkei wird der dynamische Faktor auf sunnitischer Seite werden. Der Hegemonialkonflikt zwischen Türkei und Iran (oder Persien, wenn man es so nennen will) wird die Zukunft bestimmen. Die Regierung Obama legt heute schon mehr Wert auf die Beziehungen zur Türkei als zur EU, wenn es um diese Region geht, Washington sieht in der Türkei den großen Spieler in der Region und nicht Europa.
STERN Das Verhältnis zur Türkei ist für Israel zweifellos wichtig. Seit der Militäraktion gegen türkische Hilfsschiffe für Gaza ist es nicht unbedingt besser geworden.
FISCHER Das Schiff war nur der Anlass. Die Türkei hat sich damals im Rahmen ihrer neoosmanischen Außenpolitik für ein Bündnis mit der arabischen Welt und gegen Israel entschieden. Im Grunde genommen hat Erdogan einen klassischen Wechsel der Allianzen vorgenommen, und dazu wäre es auch ohne diesen Zwischenfall gekommen.
STERN Sie sprechen hier von den dynamischen Faktoren im Nahen Osten, von verschiedenen Konfliktherden, von Ordnungsmächten und wechselnden Allianzen und lassen die unmittelbar drohende Gefahr beiseite: die nukleare Aufrüstung des Iran und die Möglichkeit, dass Israel präventiv dagegen vorgehen wird.
FISCHER In dieser Region gibt es fast nur nicht auflösbare Widersprüche. Was den Iran betrifft, gibt es realistischerweise nur schlechte Lösungen. Ich habe überhaupt keinen Zweifel, dass es das eigentliche Ziel der Iraner ist, Nuklearmacht zu werden. Ich habe mit ihnen verhandelt. Der Nahe Osten würde in einen nuklearen Rüstungswettlauf geraten, und dadurch würde sich die Sicherheitslage Europas fundamental verändern. Eine Nuklearmacht Iran hätte weitgehende, auch globale Auswirkungen. Und es würde den Atomwaffensperrvertrag endgültig zum Einsturz bringen, denn wenn der Iran damit durchkäme, wäre klar, dass auch kleine und mittlere Mächte nuklear aufrüsten, und das würde eine andere Welt bedeuten.
STERN Ich glaube nicht, dass mit militärischen Mitteln, sprich Luftangriffen, der Iran auf die Dauer daran gehindert werden kann, Nuklearmacht zu werden. Aber Netanjahu mag einen Versuch machen, in dem Glauben, dass es mehr als ein Versuch ist.
FISCHER Es wird keine einsame Entscheidung von Benjamin Netanjahu sein. Im israelischen Kabinett sitzen mehrere ehemalige Generalstabschefs der israelischen Armee; deren Unterstützung, vor allem die von Ehud Barak, wird er brauchen. Das Worst-Case-Szenario, das aber durchaus realistisch ist, wäre, dass der Iran angegriffen wird, daraufhin eine nur schwer kontrollierbare militärische Eskalation im Nahen Osten stattfindet und der Iran, voll legitimiert als angegriffenes Opfer, eine Abkürzung zur eigenen Nuklearwaffe findet.
STERN Aber was ist das für eine Abkürzung? Wie soll das gehen? Ich meine, wenn sie einen kürzeren Weg wüssten, würden sie ihn doch jetzt schon gehen.
FISCHER Nein. Denn wenn sie gezwungen werden, diesen Weg zu wählen, dann würde man sehr schnell erkennen, was sie bereits haben und wie weit sie tatsächlich sind. Es kann also sehr gut sein, dass man am Ende Chaos plus Nuklearmacht hat.
STERN Wie sähe denn das Chaos aus?
FISCHER Nun, der Iran wird versuchen zurückzuschlagen, wenn er angegriffen wird. Es wird keine nukleare Konfrontation geben, sondern der Iran wird vor allen Dingen asymmetrisch zurückschlagen. Aber das
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