Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
eingreifen und wo ich nicht eingreifen kann, dann wäre eine Intervention keine Frage der ethischen Abwägung, sondern eine Machtfrage nach dem Grundsatz: Wir intervenieren, wo wir können, und wo wir es nicht können, dort intervenieren wir nicht.
FISCHER Unter Machtfrage assoziiert man in Deutschland allzu schnell niedrige politische und ökonomische Interessen. Aber die Überlegung, dass eine Intervention zum Beispiel in Nordkorea einen großen Krieg auf der koreanischen Halbinsel und eine Konfrontation mit China auslösen könnte, ist doch eine zwingende Überlegung, die jede Regierung anstellen muss. Dasselbe gilt an anderer Stelle.
STERN Gilt es für Syrien?
FISCHER Ich habe ja einige Gründe genannt, weshalb ein Eingreifen in Syrien sehr schwierig ist: die Stärke der syrischen Armee, der Nahostkonflikt, die drohende Konfrontation mit Iran, die Hisbollah. Und ich wiederhole meine Überzeugung, ohne die Türkei geht da auf Dauer gar nichts. Wenn die Türken der Meinung sind, dass ein Destabilisierungseffekt auf sie überzugreifen droht und damit massive nationale Sicherheitsinteressen gefährdet werden, dann würden sie sich weder durch Russland noch durch Amerika groß beeindrucken lassen.
VII Die Zukunft des Westens
STERN Wir benutzen in unserem Gespräch immer wieder den Begriff «der Westen». Dabei bin ich mir gar nicht sicher, ob es den Westen überhaupt noch gibt, jedenfalls gibt in dem Sinne, in dem wir früher davon gesprochen haben. Auch «die Attraktivität des Westens», von der wir immerzu meinen, sie sei verlockend für die ganze Welt, hat, glaube ich, ein wenig nachgelassen. In dem freiheitlichen Lebensstil, den der Westen als Versprechen in sich trägt, steckt zwar immer auch das Verlangen nach Freiheit. Aber der Pursuit of Happiness wird heute doch sehr individualistisch aufgefasst, für viele besteht Freiheit heute in erster Linie im unbegrenzten Konsum, Konsum ist gewissermaßen die negative Variante der Freiheit.
FISCHER Fritz, ich würde es mal so sagen: Putin, wenn er so weitermacht, wird den Westen am Leben erhalten.
STERN Das kann ich nicht unterzeichnen, dass Putin den Westen am Leben erhält.
FISCHER Dialektisch, ironisch.
STERN Ich habe das genau verstanden, Joschka. Aber es hängt von der Definition ab, davon, was wir mit dem Westen meinen. Wenn wir mit dem Westen wirklich die liberale Demokratie meinen, dann hängt es einzig von uns selber ab, ob wir sie halten können.
FISCHER Ich hoffe.
STERN Ich hoffe auch, aber es ist eine große Herausforderung, gerade auch für die Vereinigten Staaten, die früher als das Muster einer liberalen Demokratie galten und immer wieder versucht haben, zu sein. Heute sehe ich die liberale Demokratie in den Vereinigten Staaten – nicht nur dort, aber vor allem dort – von innen bedroht. Jedenfalls sollte man nicht so tun, als ob der Westen heute noch die Ausstrahlung hat, die er nach 1945 hatte. Dabei hat Russland als Gegenpol natürlich eine ganz große Rolle gespielt, und im Grunde war es nicht sehr nett von der Sowjetunion …
FISCHER Man könnte fast sagen, das Perfideste, was dem Kommunismus gelungen ist, war abzutreten.
STERN Ja, genau.
FISCHER Die Ordnung des Kalten Krieges hatte viele Risiken, die, Gott sei Dank, nie aktualisiert wurden, und es gab viele Regionen, die dafür einen sehr hohen Preis bezahlt haben, wie Osteuropa. Aber für den Westen hatte die bipolare Ordnung etwas sehr Selbstvergewisserndes.
STERN Sie hat das Prestige des Westens untermauert.
FISCHER Und sie hat selbst Republikaner teilweise mit dem New Deal versöhnt, wo es um die Frage der nationalen Sicherheit ging.
STERN Nicht versöhnt, der Kampf wurde nur vertagt. – Es gab eben dort das Böse, und wir hier waren die Guten. Wir waren in gewissem Sinne im Wettbewerb, das konnte man in Berlin ja direkt beobachten. Chruschtschow prahlte «I will bury you», aber dazu kam es nicht. Wir mussten uns anstrengen und sind aus dem Konkurrenzkampf als eine Art Sieger hervorgegangen. Doch seit 1989 haben wir so viel verspielt.
FISCHER Auch ein Stück Selbstdisziplinierung wurde durch die Rivalität geschaffen.
STERN Ja. Aber das alles beruhte natürlich auch darauf, dass es der einen Seite materiell ziemlich schlecht ging und der anderen Seite materiell ziemlich gut. Die Freiheit des Westens beruhte letzten Endes auf dem materiellen Wohlstand, der in
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