Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Menschenwürde. Dieser Grundrechtekatalog des Grundgesetzes, Artikel 1 bis 19, ist unveräußerlich, das heißt, er ist Mehrheitsentscheidungen nicht zugänglich, eigentlich ein genialer Ansatz.
STERN Ein genialer Ansatz und historisch bedingt. Man kam dazu nach den Katastrophen.
FISCHER Deswegen haben wir heute eine Verfassung, die das absolute humane Minimum an die erste Stelle rückt: «Die Würde des Menschen ist unantastbar.» Das ist die Konsequenz aus unserer Geschichte.
STERN Der parlamentarische Rat hat Unglaubliches geleistet.
FISCHER Ja, leider hat es lange gedauert, bis diese Weisheit über die Deutschen kam.
STERN Man hat’s endlich verstanden. Übrigens glaube ich, dass es zum Teil aus den Erfahrungen des deutschen Widerstands kommt, dass die Frage der Würde im Grundgesetz eine so entscheidende Rolle spielte. Der Unrechtstaat hat ja die Würde des Menschen systematisch verletzt.
FISCHER Es gab sie nicht.
STERN Es gab sie nicht. Und deshalb bin ich mir nicht so sicher von wegen einer schrittweisen Übernahme westlicher Werte durch autoritäre Regime, nach dem Grundsatz: Dies passt uns, und jenes passt uns nicht, dieses übernehmen wir, und jenes nicht. Der westliche Wertekanon ist gewissermaßen unteilbar, und das Ganze steht und fällt mit der Achtung der Menschenwürde, die das Fundament bildet.
FISCHER Ich stimme Ihnen zu: Es gibt keine selektive Modernisierung. Im Bolschewismus hat das auch nur eine Zeit lang funktioniert – Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrizität –, und es ging von Anfang an nur mit Terror. Die Mao-Dynastie, sprich die Kommunistische Partei Chinas, wird vor denselben Problemen stehen. Deshalb bin ich, wenn Sie wollen, ein Kulturoptimist: Wenn man anfängt, die Modernisierung technisch, wissenschaftlich, in der Landwirtschaft, in der Volkswirtschaft zu betreiben, wenn die sozialen Strukturen transformiert werden in Richtung einer modernen Mittelschicht, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch demokratische Reformen unausweichlich werden.
STERN Ich wünschte, ich könnte das unterschreiben, kann ich aber nicht. Die Sowjetunion hatte immerhin 75 Jahre Bestand.
FISCHER Ich sehe das von einem anderen Hintergrund, nämlich vor dem Hintergrund der stattfindenden Globalisierung. Früher gab es den Kampf der Ideologien; weite Teile der Bevölkerungen spielten in der Politik überhaupt keine Rolle, die wurden gar nicht gefragt, sondern denen wurde gesagt, wo es lang ging, oder sie waren schlicht Opfer. Die Welt ist allein durch die globale Kommunikation eine völlig andere geworden, dieselben Träume werden jetzt auch in der ärmsten Hütte geträumt. Sieben Milliarden Menschen wollen denselben Lebensstandard erreichen und werden davon nicht mehr abzuhalten sein. In China kann die Regierung vieles, aber sie kann das Steuer nicht mehr grundsätzlich herumreißen, da wäre sie innerhalb von Stunden Geschichte. Und auch beim arabischen Frühling spielt der Wunsch nach einem höheren Lebensstandard eine starke Rolle. Das alles sind Faktoren, die uns in eine bestimmte Richtung treiben. Aus meiner Sicht wird man nirgendwo ein erfolgreiches Wirtschafts- und Sozialmodell entwickeln können, das auf Dauer die politische Freiheit und das Recht ausklammert. Wie gesagt, schon aus ökonomischen Gründen …
STERN Das ist begrenztes Recht, Wirtschaftsrecht, internationales Handelsrecht und dergleichen. Aber dass sich das irgendwann gleichsam von selbst auch erstreckt auf das politische Recht, das sehe ich nicht.
FISCHER Noch ist es in China so, dass die Kommunistische Partei die Kontrolle über die Gerichte hat, die Richter sind Parteifunktionäre, nicht unabhängige Richter. Im Moment, wo die Partei den Anspruch aufgeben muss, das Recht zu kontrollieren, akzeptiert sie die Gewaltenteilung. In dem Moment aber ziehen sie einen entscheidenden Stein aus dem Fundament der Einparteienherrschaft.
STERN Diese Zwangsläufigkeit der Entwicklung von der wirtschaftlichen und technischen Modernisierung hin zur Demokratisierung von Staat und Gesellschaft sehe ich leider nicht. Vielleicht wäre ich weniger pessimistisch, wenn mir die gegenwärtige Entwicklung in Amerika nicht so viel Sorgen bereitete. Ich beobachte doch, wie die Gegner der liberalen Demokratie und des Wohlfahrtsstaates in den USA stark zunehmen, gefördert von Reichtum und allgemeiner Verdummung. Das war ja der Ausgangspunkt unseres Gesprächs:
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