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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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Dass das westliche Modell an Faszination verloren hat. Vielleicht hat es sogar für immer ausgedient, jedenfalls als Leuchtfeuer für die übrige Welt.
    FISCHER    Aber wenn man die amerikanische Geschichte studiert, stellt man schnell fest, dass es in Amerika schon immer verschiedene Phasen gegeben hat. In den Jahrzehnten zwischen dem Ende des Bürgerkriegs und dem Beginn des Ersten Weltkriegs war die direkte Einflussnahme des Big Business auf politische Entscheidungen eher die Regel als die Ausnahme, zumindest in den großen Städten, wenn ich etwa an Chicago und New York denke. Auch die Beziehungen zwischen Arbeitern und Kapital waren sehr gewalttätig und wurden oft mit massiver Gewalt ausgetragen.
    STERN    In der Tat war während des so genannten Gilded Age die Wirtschaft in Amerika sehr stark und dominant, es herrschten Korruption und Armut, das Land war nach außen vollkommen abgeschottet. Aber gleichzeitig kamen Millionen von Auswanderern ins Land, die nur ein Ziel hatten: die Freiheit.
    FISCHER    Und den Wohlstand, Fritz. Wir sind hierher gekommen, nicht weil wir einen mächtigen Staat wollen, sondern wir sind hierher gekommen, weil wir unser eigenes Glück anstreben. Das ging doch Hand in Hand. Kann man es nicht auch so sehen, dass Amerika sich jetzt wieder mehr auf sich selbst besinnt, zu seinen Eigenheiten zurückfindet? Die Mentalität der Amerikaner ist doch immer noch eher isolationistisch.
    STERN    Dem würde ich heute nicht mehr widersprechen. Die weltweite Verantwortungsübernahme nach 1945 wurde von einer Mehrheit getragen – einschließlich des Business Interest. Jetzt droht die ungeheure Macht des Geldes in Amerika direkt in die Politik einzugreifen. Im November 2004, bei der Wiederwahl von Bush, habe ich die amerikanische Gesellschaft eine «Christianized Plutocracy» genannt: das Religiöse und das angeblich Christliche Hand in Hand mit der Plutokratie, der brutalen Dominanz des Geldes. Es ist erschreckend. Da hilft der ganze Max Weber nichts. Im jetzigen Zustand ersteht der Sozialdarwinismus wieder: Die Armen sind doch eigentlich selbst verantwortlich für ihr Schicksal.
    FISCHER    Ich weiß nicht, ob die These von Weber historisch überhaupt haltbar ist. Den Kapitalismus haben ja nicht die Calvinisten erfunden, sondern der Kapitalismus wurde in Italien erfunden und entwickelt, in den kaufmännischen Milieus von Genua, Venedig, Florenz, und die waren alle durch und durch katholisch. Man kann wirklich nicht sagen, nur die Protestanten kriegen den Kapitalismus hin.
    STERN    Die These wackelt auch in der Forschung, da haben Sie vollkommen recht.
    FISCHER    Es gab keine kälteren Kaufleute als die Genuesen oder die Venezianer. Die hatten genauso wenig Skrupel, einen ganzen Kreuzzug zu organisieren und für ihre kommerziellen Interessen Richtung Konstantinopel umzuleiten, wie die protestantischen Sklavenhändler in Liverpool mit dem transatlantischen Sklavenhandel Skrupel hatten.
    STERN    Ich will darauf hinweisen, dass «christianized» nicht dasselbe meint wie christlich. «Christianized» bedeutet schon eine Abwertung im Sinne von christlich verbrämt – man gibt sich christlich. In Wirklichkeit wird dieser positive Zug am Christentum, die Verpflichtung, Wohlstand und Reichtum mit sozialem Engagement zu verbinden, in der heutigen Finanzwelt eigentlich abgelehnt.
    FISCHER    Ist es wirklich so, dass die Reichen früher sozialer dachten und mehr auch am Gemeinwohl orientiert waren? Das ist so eine Vorstellung, dass zum Beispiel die so genannte Gründergeneration zwar auch viel Geld verdienen wollte, dass ihr aber irgendwo eine moralische Sicherung eingebaut war und man wusste, wenn es zu sehr gegen das Gemeinwohl geht, dann gibt es ein Problem. Hat sich da wirklich etwas geändert oder war das eben doch schon immer so?
    STERN    Ich kann das nur für die USA beurteilen. Was jetzt vor sich geht, ist schlimmer, auch vielschichtiger als alles früher: nicht grundsätzlich, aber graduell. Vor allem durch die Möglichkeit, die Politik durch Geld direkt zu steuern.
    FISCHER    Aber war diese Gelegenheit für die Vanderbilts und wie sie alle hießen geringer?
    STERN    Die konnten mehr oder weniger tun, was sie wollten, und hatten den Staat nicht nötig, und wenn sie ihn nötig hatten, haben sie ihn eingebunden, ganz richtig. Aber der Gedanke, dass man sein Geld in die politische Arena schmeißt, nur um den Präsidenten zu stürzen – was viele Millionäre in

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