Gegen jede Regel
Dann sah ich Bewegung im Innenraum. Das verschaffte
mir neue Energie.
Ich rief hinein: »Hallo?! Geht es Ihnen gut?«
Die Frage war ziemlich idiotisch, aber es war das Einzige,
was mir einfiel, und sehr viel taktvoller als die Frage, ob der Mann noch am
Leben war.
Die Antwort war unverständlich, aber beim Klang der
menschlichen Stimme rollte eine ganze Lawine der Erleichterung von meinem
Herzen.
»Ich werde versuchen, die Tür zu öffnen!«, rief ich
hinein. Während ich mich mit der verklemmten Tür auseinandersetzte, näherten
sich Schritte.
»Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«, fragte jemand. Ich
blickte über meine Schulter und schloss aus der Richtung, aus der der Mann kam,
dass er der Lkw-Fahrer sein musste.
»Ja, aber der Fahrer hier ist eingeklemmt. Haben Sie ein
Handy?«
»Ja klar.«
»Dann rufen Sie einen Rettungswagen.«
Der Mann begann zu wählen.
Ich musste ziemlich abgebrüht wirken, denn ich hörte mich
sagen: »Und die Polizei werden wir auch brauchen.«
Der Lkw-Fahrer nickte, dann setzte er den Notruf ab. Mit
einem Krachen bewegte sich die Tür unter meinen Bemühungen. Das Schloss war
geöffnet. Die Scharniere waren aber so verbogen, dass ich mit meiner ganzen
Kraft an der Tür ziehen musste, um sie zu öffnen. Braune Schuhe und braune
Hosenbeine kamen zum Vorschein. Von einem Bein tropfte frisches Blut herab.
»Haben Sie einen Verbandskasten?«, rief ich dem
Lkw-Fahrer zu.
»Klar!«, rief er zurück und ich hörte, wie er sich entfernte.
Ich fragte ins Auto: »Können Sie sich bewegen?«
Der Verletzte antwortete nicht, begann aber, sich herauszuschieben,
sodass mehr und mehr von seinen Beinen zu erkennen war. Nach einer halben Minute
war die Hüfte bereits im Freien. Der Lkw-Fahrer brachte den Verbandskasten
Auf meine Hilfsangebote reagierte der Verletzte nicht,
sondern schob sich selbst weiter aus dem Auto. Ich traute mich nicht, ihn anzufassen,
weil ich ihn nicht unbeabsichtigt schwerer verletzen wollte.
Als sein Bauch sichtbar wurde, entdeckte ich an seiner
Seite eine gefährlich aussehende Wunde. Der Mann trug ein weiÃes Hemd, das
aufgerissen war und sich mit Blut vollgesogen hatte. Das Blut lief an seinem
linken Bein herab und tropfte weiter auf die StraÃe. Ich hatte keine Ahnung,
wie viel Zeit seit dem Unfall vergangen war, aber von den Rettungskräften war
noch nichts zu hören. Nur der Nebel umgab uns mit einer gleichgültigen Stille,
die mir falsch vorkam angesichts der Ereignisse, die sich auf der StraÃe
abgespielt hatten.
Ich nahm eine Hand des Mannes, als das endlich möglich
war. Ihn das letzte Stück herauszuziehen, war einfach. Das schwarze Haar klebte
an seinem Schädel, er war totenblass, seine Augenlider flatterten, er lehnte
sich an die Ãberreste seines Wagens, um nicht zu stürzen.
Als ich ihn anschaute, kam er mir seltsam vertraut vor.
Aus irgendeinem Grund musste ich an Salami denken.
Ich betrachtete ihn genauer und war mir sicher, dem Mann
noch nie begegnet zu sein. Er sah auch keinem meiner Freunde oder Bekannten
ähnlich. Ein ganz unauffälliges Gesicht, einige Sommersprossen, ein abstehendes
Ohr. All das brachte mich in die Nähe der Erkenntnis, aber erst als der Mann
die Augen aufschlug, zündete der Funke. Starre, kalte graue Augen,
durchdringend und ohne jedes Gefühl. Das Phantombild konnte einen nicht auf
diese Augen vorbereiten.
Dem Erkennen folgte Schrecken und der Gedanke, dass ich
handeln musste. Während wir uns anschauten, fand ich mein Erkennen in den Augen
des anderen gespiegelt. Die Rollen des Verletzten und des Helfers waren
obsolet.
Ich wollte den Mann verhaften und griff bereits in meine
Jacke. Aber der andere war schneller. Er verpasste mir zwei wuchtige Schläge in
die Magengrube und rammte sein Knie an meinen Schädel, als meine Beine
einknickten. Dann versuchte er zu fliehen.
Ich fluchte unterdrückt, zwang mich wieder hoch und lief
hinter ihm her. Durch seinen Angriff hatte er vielleicht zwanzig Meter
Vorsprung. Die Entfernung war bereits kritisch, der Nebel drohte, ihn zu
verschlucken.
Zwei andere Männer kamen von der Seite auf mich zu. Ich
erkannte den Lkw-Fahrer. Der andere Mann wirkte blass und ängstlich.
Ich griff in meine Jacke und zog meine Dienstwaffe aus
dem Holster. Dass mich allein diese Handlung für eine Sitzung bei Dr. Klein
qualifizierte, gehörte zu
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