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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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übrige Zeit kritzle ich Gedichte oder Geschichten, die sie Wodka schlürfend auf der Matratze oder auf einer Bank am Rand der Rasenflächen im benachbarten Park liest. Ich schlüpfe zu ihr unter die Decke, und sie brummt, weil ich nackt mager und eiskalt bin. Sie dreht sich zu mir um. Mein Atem riecht nach Tabak und Whisky, und sie küsst mich.
    Als ich aufwachte, verließ Sarah das Haus, und es war das letzte Mal, dass sie mit den Schlüsseln klapperte, einen Schluck Tee trank, zu mir »bis heute Abend« sagte. Sie trug einen orangeroten Rock einen apfelgrünen Pulli leichte Turnschuhe und ihren hellen Regenmantel, das Auto fuhr davon, und danach war Stille, eine so tiefe Stille, dass sie mir im Nachhinein wie ein Alarmsignal, eine Warnung, ein Vorzeichen erschien. Am nächsten Tag fand man den Ford auf einem Parkplatz an der Seine, die an den Ufern vertäuten Kähne waren offenbar unbewohnt, man hat es überprüft. Auch der Fluss wurde abgesucht. Auf dem rechten Vordersitz hatte Sarah ihre Handtasche zurückgelassen, ich hatte zum Inspektor gesagt, das ist der Beweis, wenn sie freiwillig weggegangen wäre, hätte sie doch ihre Bankkarte ihr Telefon mitgenommen, er hatte geantwortet, es beweist eher das Gegenteil, hätte sie verschwinden wollen, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, hätte sie verhindern wollen, dass man ihre Spur verfolgt, hätte sie sich nicht anders verhalten, es war die klassische Methode, die goldene Regel. Ich saß ihm gegenüber und er blickte mich über seinen Schreibtisch hinweg zufrieden an. Ich zerfloss in dem kalten Licht, es roch nach Banane, jedes Mal wenn ich ihn aufsuchte, hatte er eine in seiner rechten Hand. In der linken hielt er ein kleines schwarzes Notizbuch, Sie kennen es, nehme ich an, sagte er, man hatte es in ihrer Handtasche gefunden, ich erinnerte mich nicht, sie jemals damit gesehen zu haben. Ich kann Ihnen versichern, es ist sehr aufschlussreich. Er hatte zwei Seiten markiert, da beklagte sich Sarah über mich und meinen unmöglichen Charakter, über unsere Streitereien, meinen Egoismus und meinen Jähzorn. Ein cholerischer und infantiler Zwangsneurotiker, so beschrieb sie mich. Am Schluss ging es um die Kinder, sie sagte, sie sei mit den Nerven am Ende und zum Umfallen müde, Manon sei hyperaktiv und Clément mache sie fertig mit seinen Fragen, sie fühle sich vereinnahmt, erdrückt, weil er so klammere und an ihrem Rockzipfel hänge.
    »Hören Sie auf«, brüllte ich.
    Ich war aufgestanden und hatte ihm das Notizbuch aus der Hand gerissen. Mir dröhnte der Kopf, mir blutete das Herz. Zu Hause überflog ich es zitternd, und auch wenn Sarah sich hier oder da aufregte, die meisten Eintragungen waren ein getreues Abbild unseres Lebens, seiner Höhen seiner Tiefen seiner Küsse seiner Fußtritte, niemand, der sie las, hätte an der Liebe zweifeln können, die uns vier verband. Ganze Seiten waren den Kindern gewidmet, Sarah notierte jede Einzelheit, die sie betraf, rührende Gesten überraschende Ausdrücke ergreifende Gedanken und Gesichter. Mich schilderte sie so, wie ich war, wankelmütig egozentrisch besessen von meiner Arbeit, immer irgendwie abwesend, cholerisch und von etwas Unerklärlichem gequält, aber sie liebte mich trotzdem, schrieb sie, trotz allem liebte sie mich. Ich weinte, als ich das Notizbuch zuschlug. Die Summe dieser einzelnen Bruchstücke bildete unser Leben und ergab ein zusammenhängendes, erkennbares Bild dessen, was man wohl Glück nennen musste, das Glück, das uns immer entwischt und nur in der Vergangenheit Gestalt annimmt.
    Ich stand auf, Manon schlief, und Clément ließ Sand durch seine Finger rieseln. Am Himmel zogen ein paar Schäfchenwolken auf, das Licht veränderte sich, ab und zu sah es nach Gewitter aus, dann wieder wie an einem Sommerabend, und plötzlich wurde alles hell, eine silberne Lache bildete sich am Horizont und smaragdgrüne Streifen zogen sich durch das leuchtende Blau. Ich nahm den Ball, markierte mit unseren Jacken zwei Torpfosten, und wir fingen mit dem Torschusstraining an. Dem Jungen fehlte es an Kraft, aber seine Treffsicherheit war teuflisch. Er konnte ganz knapp am Pfosten vorbei zielen, und ich war regelmäßig auf der falschen Seite, so lang ich mich in den Sand warf, mir fehlten immer gut zwanzig Zentimeter. Nach zehn Toren tauschten wir die Rollen. Ich trottete in die Schusszone. Ich hatte das Gefühl, drei Tonnen zu wiegen, seit Monaten war ich nicht gelaufen, hatte keinen Ball gekickt, es knirschte in

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