Geh auf Magenta - Roman
in denen er sie immer begehrt hatte, aus weiter Entfernung, als die Frau eines Freundes. Wahrscheinlich hatte sie ihn auch immer nur als das wahrgenommen, als einen Freund. Das war jetzt anders, eine Nische hatte sich aufgetan, mit der er niemals gerechnet hatte, auf die er niemals hätte hoffen können; das war ein Wendepunkt in seinem Leben, ein Glück, das er kaum fassen konnte. Auch seine Bedenken, ob sie denn wirklich über Bastien hinweg sei, hatte sie in ihren Antworten schmelzen lassen wie Butter in der Sonne; sie hätte sich entschieden, dieser Mann habe ihr Vertrauen missbraucht, das wäre vorbei, ein für alle Mal, es gebe jetzt nur noch ihn, Thomas. Und die Kinder natürlich. Sie wären jetzt eine Familie mit allem Drum und Dran, so, wie es mit Bastien niemals möglich gewesen wäre.
Im Grunde war er kein Familienmensch. Eine Firma zu leiten, zu delegieren, Verträge auszuhandeln, das war eine Sache, der Umgang mit Kindern eine andere, ein bis dato unbekanntes Territorium der kleinen Verletzungen hier und da. Aber die Liebe zu ihr war ohne eine Liebe zu den Kindern faktisch nicht vorstellbar, die drei waren eine in sich geschlossene Einheit, so verstand es Mel, und so verstand sie auch den Mann an ihrer Seite. So weit, so gut, aber wollte er das wirklich? Musste er sich doch eingestehen, dass die anfängliche Aufregung für Mel bereits anfing, sich zu legen, jetzt, wo sie offensichtlich begann, ihn als ihren Lebensgefährten oder sogar Mann zu definieren, kurz: Er hatte bekommen, was er immer wollte, seine Fahne wehte deutlich sichtbar über der eingenommenen Festung und über Bastiens vollkommener Niederlage.
Eine Ampel.
Er stoppte. Sicher, einige Male hatte er dessen endlose Fachsimpeleien kaum noch ertragen können, ebenso das manchmal ostentative Anbiedern, wenn es darum ging, einmal wieder eines dieser kitschbunten Bilder zu kaufen, aber dennoch verband sie immer eine Freundschaft, im Grunde auch eine ehrliche, wenn man die Maßstäbe Authentizität und Sympathie anlegte. Weniger gefallen hatten ihm zwei Dinge, die Bastien im Gegensatz zu ihm immer besaß, das eine war Mel, das andere – Freiheit; die Freiheit, als Künstler jederzeit alles tun und lassen zu können, was man wollte, gab es doch nicht eine Firma, die einen in jeder Minute in Anspruch nahm und an den Dingen hinderte, die man am liebsten tun würde, denken, träumen, reisen, eine Affäre nach der anderen zu haben. Vielleicht war es das, Bastien war jemand, der sein Glück nicht zu schätzen wusste.
Er setzte den Blinker und fuhr auf den Autobahnzubringer, gab dann Gas, die Tachonadel stieg steil an. Er stellte sich kurz vor, dass das hier jetzt nicht der Berliner Ring wäre, sondern eine australische Buschlandschaft, karg, heiß und verlassen. Der Staub würde aufwirbeln und sich im blauen Himmel verlieren, dann ein Schalten in den nächsten Gang, neuer Staub, eine Fontäne aus Erde und Sand hinter ihnen. Sie säße neben ihm, in diesen zerrissenen Jeans, würde seinen Arm umgreifen, ihn aufmuntern, noch etwas schneller zu fahren, mitten durch das ausgetrocknete Flussbett hindurch, dann geradeaus mit Vollgas, immer schneller. In diesen wenigen Minuten heute hatte diese Kirsten ihm gezeigt, wer er eigentlich sein wollte. Es war wohl gesünder, diese Art von Gedanken zu ignorieren.
*
Die Tür zum Kinderzimmer ist nur angelehnt. Ich schalte die kleine Stehlampe zur Rechten an, sie besteht aus einem orangefarbenen Plastik-Teddybären, noch aus den 80ern, ich lächle über ihn, wie klein ich doch war. Ein Blick in das Zimmer sagt mir, dass es nicht gut ist, hier zu sein, ich sollte nicht herkommen – warum bin ich hier? Noch ein Stückchen weniger Familie, noch mehr namenlose Erinnerungen. Es ist an der Zeit, das alles wegzuschneiden, aus der Erinnerung zu schneiden, dafür habe ich ein Extra-Messer. Ich schneide Erinnerung, ich schneide kleine E-Stücke, eins nach dem anderen, lege sie aneinander, brav, wie ich bin, geht doch alles weiter: das Fensterkreuz dort, das Bild mit Papa, ganz nackt, die kaputte Lampe in der Diele, ich sehe es und nehme wahr, schließe die Augen und nehme sie wieder wahr: das Fensterkreuz dort, das Bild mit Papa, ganz nackt, die kaputte Lampe in der Diele, auch wenn ich sie jetzt vergessen will, sie bleiben da: das Fensterkreuz dort, und ich mit Papa, ganz nackt, mein Kopf in seinen Hüften, die großen Hände in meinem Haar, die kaputte Lampe in der Diele. Es ist nicht zu vergessen, sie bleiben, kleine
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