Geh auf Magenta - Roman
Rolle und die anderen Charaktere. Offensichtlich sollte es eine Liebesgeschichte vor dem Rahmen des internationalen Terrorismus werden, Bastien befürchtete das Schlimmste. Die Schauspielerin schwieg die ganze Zeit über, während der Regisseur ihr enthusiastisch ihre Rolle erklärte, ihre Liebesbeziehung zu einem Terroristen und ihren Konflikt zwischen Moral und Begierde; er überschlug sich förmlich in den Ausführungen der einzelnen Handlungen, wirbelte mit Händen und Armen, sprang über ein Bett, um in einer Flugrolle auf dem Boden zu landen, es fehlte auch nicht am theatertypischen Geschrei. Bastien rutschte etwas nervös auf seinem Platz hin und her, natürlich verstand sich das Stück als Ironie, das war bereits nach zehn Minuten klar, aber an dieser Erkenntnis änderte sich auch nach weiteren zehn Minuten nichts, und seine Langeweile steigerte sich. Ein Blick zu Kirsten zeigte ihm, dass es ihr anders erging, gebannt verfolgte sie das Geschehen, was er zunehmend lächerlich fand. Nachdem er nun das Atelier seit über einer Woche so gut wie gar nicht verlassen hatte, hätte er sich diesen Ausflug in die Welt der Menschen anders vorgestellt – fahle Gesichter vor beschlagenen Scheiben in der Bahn, Winterjacken mit nassen Pelzaufsätzen, Wasserlachen auf dem Boden, es gab nichts, das ihn auch nur annähernd auf andere Gedanken hätte bringen können. Und diese Gedanken waren hartnäckig und kreisten notorisch um Mel.
Seine Blase sandte ungemütliche Signale aus, auch begann man auf der Bühne nun mehr als sinnlos von Osama bin Laden zu sprechen; er entschuldigte sich kurz bei Kirsten und ging geduckt zum Ausgang, öffnete leise die Tür und stand wieder im leeren Foyer. Die Toilette lag rechter Hand am Ende eines Ganges, er konnte sich kurz darauf erleichtern. An der Tür war ein Klospruch zu lesen:
Kennst du Toilettentennis?
Schau links
Schau rechts
Schau links
Schau rechts
Es funktionierte, ihm wurde schnell schwindlig. Um dem Ganzen ein Ende zu bereiten, drückte er die Spülung, es rauschte lang, verebbte schließlich. Er setzte sich auf die Klobrille und rieb sich das Gesicht; wie anders wäre seine Laune jetzt, wenn Mel mit ihm dort zwischen den Zuschauern sitzen würde; dann wäre auch die Qualität des Stückes egal, der Schneematsch ebenso und die U-Bahn ein heiterer Ort, alles wäre gut, gäbe es nicht diesen dauerhaften Schmerz, der alles Erlebte sofort zu grauen Schatten mutieren ließ. Er war inzwischen so weit, dass er die Stadien des Schmerzes in einer Art inneren Excel-Liste verorten konnte:
1 – das erste Erkennen, dass die Welt nicht mehr in Ordnung ist.
2 – die trotzige Arroganz, dass alles gar nicht so schlimm werden wird.
3 – das erste Aufkeimen des Schmerzes (zumeist abends, allein) und die Ahnung, dass man mit Nr. 2 vollkommen falschlag.
4 – das zweite Erkennen, dass an dieser Welt rein gar nichts mehr in Ordnung ist.
5 – das Eskalieren des Schmerzes in Form einer anhaltenden Vibration.
6 – die spürbare Erkenntnis, dass selbst dieser Schmerz immer noch multiplizierbar und steigerbar ist.
7 – der erschöpfte Einklang mit der Summe aller Schmerzen.
8 – ein dumpfes Gewöhnen an diesen so erreichten Meister-Schmerz, der nun von Dauer ist.
9 – das postemotionale Einpendeln des Schmerzes in einen Zustand des vollkommenen seelischen Unglücks.
Völlig unnötig drückte er noch einmal die Spülung, hörte wieder das Rauschen unter sich und wurde dabei eigenartig ruhig. Wir wollen lieben, dachte er, und geliebt werden, wahrscheinlich nur eine Doktrin der Natur, die gnadenlos auf ihr Bestehen bedacht ist; Liebe als eine simple Vorstufe zur Paarung, ein Anreiz zur notwendigen Garantie des Fortbestands der Gattung; wer nicht liebte, wurde schlicht ausgeschieden, ganz einfach weggespült in die Kanalisation der unfähigen Herzen. Aber es ging um mehr, um die Überwindung der ungefüllten Zeit, so dass man den unsäglichen Zustand der Leere gar nicht erst erleben musste. Denn nur die Liebe verlieh einem Leben die nötige Fülle an Glück, Sicherheit und Zufriedenheit, darin unterschied sich eine solche Existenz von einem rein körperlichen Dasein.
Ein wenig Leere wäre ja gut, dachte er, sehr hilfreich in seiner Situation; aber noch war er nicht so weit, dass die Abwesenheit des Lebens zum Inhalt eines neuen werden könnte. Dann, wenn das Atelier eines Tages zu seinem Grab würde. Oder Orte wie dieser hier, Orte eines systematischen
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