Geh auf Magenta - Roman
gemeinsam, so etwas wie eine richtige Basis.«
»Was kommt jetzt? Dass ich eine Midlife-Crisis habe? Sag mir einfach, was hier los ist!«
»Das mache ich doch.«
»Die Wahrheit meine ich. Gibt es jemanden?«
»Nein. Definitiv nicht.«
»Nicht?«
»Nein.«
Die Antwort beruhigte ihn ein wenig. Zumindest für den Augenblick. Er wusste, dass er sie später ohnehin hinterfragen würde, er würde sich an diesen scheuen Blick zur Seite erinnern, an den verdächtigen Unterton dieses Nein , an all die verräterischen Indizien, die ihn in der ersten einsamen Stunde in den Wahnsinn treiben würden. Sie blickte ihn wieder fest an: »Wir müssen uns neu finden, das ist es. Erst einmal loslassen, Abstand haben. Uns – erfühlen, in kleinen Schritten. Unser Leben einmal von den Bedürfnissen trennen und beides separat betrachten. Das, was wir sind, und das, was wir wollen.«
»Hat das dein Therapeut gesagt?«
»Ja.«
»Und hast du auch eine eigene Meinung dazu?«
»Ich finde, dass er recht hat. Er versteht das auch, ich meine, dass man die Wahrheit über sich finden will.«
»Wir packen uns an den Händen, summen ein paar Mantren und finden unsere scheiß Wahrheit, so was, ja? Weißt du eigentlich, was du hier tust?«
Sie schwieg, starrte auf den Tisch. Er senkte die Tonlage: »Komm, lass uns noch mal darüber reden. Wir kriegen das schon hin.«
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf, sein Blick blieb wieder auf der Uhr haften, ein weiteres Ticken. »Und wie hast du dir das jetzt vorgestellt, schlafe ich auf dem Sofa oder unter dem Tisch oder –?«
Sie schüttelte wieder den Kopf, es war klar, was sie damit meinte.
Ein langes Luftholen.
Ein Reiben mit der Hand durch sein Gesicht: »Das ist es jetzt, ja?«
Sie antwortete nicht. Ebenso wortlos stand er auf, öffnete den Küchenschrank, nahm einen der Müllsäcke heraus, ging ins Schlafzimmer und packte einige Shirts, Hemden und Unterhosen ein, dazu einen Mantel, für die scheiß Kälte da draußen , dachte er, für die scheiß Kälte hier . Er hörte sie in der Küche weinen, setzte sich kurz auf das Bett und starrte eine Zeit lang in den Wandspiegel.
Keine Gedanken, jetzt nicht.
Zurück in der Küche sah sie ihn mit verweinten Augen an: »Verstehst du mich?«
Er schulterte den Rucksack und die Mülltüte und ging zur Tür, drehte sich kurz um: »Nein.«
Ihr schossen neue Tränen in die Augen. Er ging hinaus und schloss leise die Tür. Vor sich sah er die Treppen, genau vierundsechzig Stufen, langsam, ganz langsam, dachte er und wusste nicht, warum. Vielleicht, damit sie noch Zeit hatte, ihn zurückzurufen? Er stieg die Treppen hinab, kein Öffnen der Tür war zu hören, nichts, es war totenstill. Dann die Haustür, ein erster Schritt nach draußen, er spürte die Kälte und zog den Mantel an. Die vertraute U-Bahn-Station befand sich auf der anderen Straßenseite, coming home , dachte er bitter und ging hinüber. Es gab in dieser Stadt jetzt nur noch einen sicheren Ort für ihn: sein Atelier.
*
Mel saß unbeweglich am Küchentisch. Sie hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, dann seine sich entfernenden Schritte im Treppenhaus. Steif stand sie auf und ging zur Kaffeemaschine, eine rote Lampe leuchtete, der Wasserbehälter war leer. Sie entnahm ihn aus dem Gerät und füllte ihn nach, einer mechanischen Handbewegung folgte die nächste; sie sah ihre Tränen in den Behälter tropfen und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, die Schminke hinterließ einen schwarzen Streifen auf der Haut.
Sie dachte an den Tag seiner Abreise, die gleichen Tränen, der gleiche schwarze Streifen auf dem Handrücken. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie in dieser Küche gesessen hatte, wie lange sie abwechselnd geweint und dann wieder auf den Tisch gestarrt hatte, unterbrochen von nervösen Blicken zur Tür, die sich aber, wie erwartet, nicht geöffnet hatte; kein Bastien war eingetreten, um ihr zu sagen, dass er es sich anders überlegt hätte, dass er nicht fahren und bei ihr bleiben würde. Sie hatte daran gedacht, dass er genau in diesem Augenblick wahrscheinlich am Flughafen stand, seinen Arm um die Schultern dieser Blonden gelegt hatte und in bester Laune noch etwas Sonnenschutzmittel und Kondome einkaufte. An diesem Tag hatte sie sich geschworen, dass sich alles ändern müsse, einfach alles.
Sie hörte auch jetzt weiter zur Tür, nichts. Der Kaffee schmeckte nicht, sie schüttete ihn in die Spüle. Sie lauschte wieder, es blieb still. Er kam nicht zurück. Wie
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