Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geh aus, mein Herz

Geh aus, mein Herz

Titel: Geh aus, mein Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ake Edwardson
Vom Netzwerk:
war, und es war nicht ihr Arm.

6
    Wide war am Abend lange aufgeblieben, hatte die Gesichter der Kindheit in den Jahrbüchern betrachtet, aber die Züge, die er suchte, hatte er nicht gefunden. Vielleicht waren sie da irgendwo, aber darauf schwören konnte man nicht, er fand jedenfalls kein Gesicht, an dem sein Blick lange hängen blieb. Vielleicht Peter Sjögrens, ein wenig angespannt, als ob er in die Mathematikstunde müsste, sobald der Fotograf gegangen war. Oder sein eigenes, unter der Haartolle. Er sah, dass Peter Sjögren und er die Einzigen auf dem Foto waren, die sich das Lächeln verkniffen. Warum lächelten sie nicht?
    Wide war mit guter Laune nach Hause gekommen und war ein Weilchen vor dem CD-Stapel stehen geblieben. Er schaltete die Stehlampe hinter dem Ledersessel ein. Beides hatte er in einem Antiquitätenladen auf der Andra Långgatan gefunden und zu einem guten Preis erworben, da der Lampenschirm ein wenig verzogen war und der Sessel an Schuppenflechte zu leiden schien. Aber er war bequem, er war sehr bequem, und Wide stellte das rechte Bein auf die abgerundete Lehne und schloss die Augen bei der Sarabande – Bachs zweite Partita in d-Moll von 1632, gespielt von Christiane Edingers Amati, füllte das Zimmer mit ihren unübertroffenen Tönen. Ein solches Instrument zu besitzen! Er hatte die Augen geöffnet und die Gesichter noch einmal betrachtet, bis alle Züge zu einem einzigen Gesicht verschmolzen und er merkte, dass er müde wurde.
    Er hatte traumlos geschlafen, daran erinnerte er sich jetzt im Morgenlicht, das durch die halb geöffneten Jalousien drang. Es hatte die Farbe von Zinn. Das Wetter hatte sein Versprechen von gestern, Bläue und klare Schärfe in der Luft, nicht gehalten. Als er hinaus und in den Himmel schaute, sah er, dass sich die Alufolie wieder über die Stadt gebreitet hatte.
    So war es nicht immer; selbst wenn der Himmel bedeckt war, konnte er ihn sehen, so weit das Auge reichte. Es gab immer einen Spalt in der grauen und scheinbar geschlossenen Decke. Wenn er weit genug hinaufschaute oder weit genug nach Westen, sah er diesen Spalt, den blendenden Streifen am Horizont, der nie ganz bedeckt war und Licht zu versprechen schien. Sehr bald, nachdem Jonathan Wide nach Göteborg gezogen war, hatte er gemerkt, wie sehr er sich von dem Horizont angezogen fühlte. Das war gewesen, noch bevor er ein Mann geworden war. Seine Familie stammte aus Jütland. Dort hatte er nie gelebt, aber als er fünf Jahre alt gewesen war, hatte er den Sarg seines Vaters zurück zu der alten Erde begleitet, und er erinnerte sich noch heute an diese Reise und das Meer.
    Schon frühzeitig hatte er begriffen, dass er nicht auf dem Land leben konnte, unter einem Himmel, der hundert Meter entfernt hinter den Tannenwipfeln endete. Er brauchte das Meer und den Horizont und vielleicht ganz besonders die glänzenden Lichtstreifen dazwischen. Wenn er das Gewölbe sah und das Licht, war es ein Gefühl, als würde all das Schwere in seinem Kopf schrumpfen und vernichtet werden, und stattdessen wuchs etwas wie Hoffnung. Wenigstens für einen kurzen Moment. Er wusste, dass er die offene Stadt nicht verlassen konnte. Dann wäre er verloren.
    Wide ging zum Herd und nahm eine Kasserolle aus einem Schrank daneben. Während das Wasser kochte, gab er Pulverkaffee direkt aus dem Glas in eine Tasse, mischte ihn mit Milch und schüttelte die Tasse, um das Kaffeepulver in der Milch aufzulösen. Dann goss er kochendes Wasser darüber, nahm die Tasse mit an den Tisch und stellte sie auf einen Untersatz, den er einmal aus einer Bar mitgenommen hatte. Eigentlich hatte er ihn längst wegwerfen wollen. Vielleicht würde das heute geschehen.
    Er toastete sich zwei Vollkornbrotscheiben, bestrich sie mit Margarine, legte dicke Scheiben Käse darauf und löffelte Apfelsinenmarmelade darüber. Dann schlug er die Zeitung auf, den Hauptteil, und forschte unter den Artikeln nach Namen, fand jedoch keinen von Peter Sjögren. Auf Seite sechs gab es eine kleinere Notiz über eine Frau, die mitten in Göteborg tot aufgefunden worden war. Es handelte sich offenbar um Mord, auch wenn das Wort nicht benutzt wurde. Keine Namen, keine Bilder. So sollten derartige Fälle behandelt werden. Gestern passiert. Falsch. Gestern entdeckt. Er dachte an Kriminalkommissar Sten Ard. Er dachte an das Gespräch mit Anders Torstensson. Er dachte an Ulla Bergsten-Torstensson. Das Telefon klingelte.
    Er erhob sich, ging zum Schreibtisch im Schlafzimmer und hob nach dem

Weitere Kostenlose Bücher