Geh nicht einsam in die Nacht
gesungen hatte: Zu später Stunde an diesem Kneipenabend, als sie geweint hatte und gern getröstet worden wäre, war er an ihr vorbeigegangen und hatte so getan, als würde er sie nicht sehen.
Aus eigenem, freiem Willen war sie es geworden: einsam. Bis Mittsommer war sie auf Aspholm geblieben, wo es kein Telefon gab und niemand sie erreichen konnte. Es kamen auch keine Zeitungen, und so vergingen Tage oder sogar Wochen, ohne dass sie sich mit all den schrecklichen Dingen beschäftigen musste, die in der Welt passierten: die Krawalle in Paris, der Mord an Bobby Kennedy, die Belagerung von Biafra. Doch nun war Juli, und Göran und Catherine und Eva und Großmutter waren gekommen, Silander aus Tirmo fuhr jeden Tag die Zeitung zu ihnen hinaus, und Catherines Transistorradio lief die ganze Zeit. Adriana war in die Stadt geflohen, zu ihrer engen Wohnung in der Smedsgatan, in der es staubig und abgestanden roch und die Kleider und Schminkdöschen auf dem Fußboden lagen und ihn zumüllten. Es war Mitte Juli und stickig, und jeden Abend rief Adriana eine Nummer nach der anderen an, ohne jemanden zu erreichen, und saß daraufhin da und wartete stattdessen darauf, dass das Telefon klingeln würde, und die Leere drängte sich auf, und ihr wurde schwindlig, wenn sie versuchte, sie in einen Pferch zu locken, sie dachte, dass sogar Stenka oder Sam anrufen durften, Hauptsache, irgendwer tat es. Aber wenn sie an Stenka und Sam dachte, wurde ihr nur noch schwindliger, und dann kam das Grau, kam die Nichtigkeit, das Verschwinden, und sie schrumpfte und schrumpfte, und am Ende hielt sie es nicht mehr aus, sie musste mit jemandem reden, sie musste jemandem erzählen dürfen, obwohl sie gar nicht wusste, was sie erzählen wollte. Und deshalb saß sie jetzt bei Tante Lu, die nie die Stadt verließ, Lu, die im Grunde die Einzige in der gesamten Verwandtschaft war, der Adriana blind vertraute.
Adriana hatte gewartet, während Tante Lu in der Küche beschäftigt war, sie war in einem kirschfarbenen Samtsessel versunken und hatte Augen und Gedanken umherschweifen lassen. Sie war seit Jahren nicht mehr bei Lu gewesen, aber die Wohnung war noch wie in ihrer Erinnerung. Groß für einen einzelnen Menschen, vier Zimmer und eine geräumige Küche, offen und hell, mit großzügigen Fenstern, aber gleichzeitig voller persönlicher Erinnerungen: Da waren kleine Statuetten und andere dekorative Gegenstände aus verschiedenen Kulturen und Ländern, da waren Aschenbecher aus unterschiedlichen Materialien und in variierendem Design, da waren Gemälde von Künstlern, die Lu gekannt hatte, und zwischen den Bildern hingen gerahmte Fotografien von Musikern von anno dazumal: Auf dem größten Foto saß ein schlaksiger und stutzerhaft gekleideter Farbiger, lächelte, spielte Klavier und blickte zur Kamera hoch.
Tante Lu trug ein Tablett mit frischem Brot und Vollkorn-Skorpa, Butter, Honig, zwei Sorten Käse und dampfendem, frisch aufgebrühtem Tee herein. Adriana, die davon ausgegangen war, dass Lu bloß eine Kanne Kaffee kochte, schämte sich und sagte:
»Aber Tante! Warum hast du denn nichts gesagt? Ich hätte dir doch geholfen!«
»Ich wollte dich überraschen«, erwiderte Tante Lu schroff und stellte das Tablett ab. »Du siehst käsig aus, Addi, hast du niemanden, der sich um dich kümmert?«
»Mir geht es gut, Tante Lu«, log Adriana. Es war Abend und der Himmel klar, das Zimmer, in dem sie saßen, ging nach Westen hinaus, und sattes Licht flutete herein. Es sieht alles so hübsch und versöhnlich aus, dachte Adriana, ich kann nicht in diesem Zimmer und Licht sitzen und ihr erzählen, wie es mir geht, sie würde mir nicht glauben.
»Jetzt ist aber mal Schluss mit diesem ewigen Tante hier und Tante dort«, sagte Tante Lu. »Wie alt bist du jetzt, Addi? Fast vierundzwanzig? Außerdem bin ich gar nicht deine Tante, das weißt du genau. Du darfst mich … du kannst mich Lucie nennen.«
Adriana wiederholte stumm: Lucie. Und Lu…cie hatte ja Recht. Sie war eine entfernte Verwandte, und Adriana wusste nicht einmal genau, wie sie verwandt waren: Lucie war eine jüngere Kusine oder Kusine zweiten Grades von Adrianas Großmutter, Elsa Boehm, aber sie hatte immer die Rolle als Mutter Catherines zwanzig Jahre ältere und grundverschiedene Freundin gehabt. Die blasse und empfindsame Catherine. Die bissige und forsche Tante Lu. Adriana sah sie an und dachte: Wie schön sie ist, groß und schlank und mit Gesichtszügen, die fein geblieben sind, sich nur ein
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