Geh nicht einsam in die Nacht
Minusversion aller expansiven Menschen, aller glänzenden Künstler und Rhetoriker und Strippenzieher und Volksaufwiegler und Heerführer und Diktatoren, die in der Welt herrschten. Die graue Haut, das schwarze Loch, die Nichtigkeit, diese bleischweren Wolkenmassen zwischen ihr und dem Himmel, auf Las Canteras in Las Palmas genauso wie vor ihrem Fenster in der Smedsgatan und über den Inseln Rönnskär und Gråhara bei den wenigen Malen, die sie Göran, Catherine und Eva in der Havsgatan besucht hatte. Die gleiche Nichtigkeit in Paris, wo sie im Winter eine Chance als Model bekommen hatte, aber unfähig war, den Schein zu wahren: Sam Karnow und Stenka hatten sie als ihre Manager begleitet und ihr die Nacht gezeigt, sie durch eine Unzahl von Clubs gelotst, in denen die Musik grollte und brüllte und Farbkaskaden und seltsame Lichtspiele über die Wände strömten. Aber Adriana war traurig und verschlossen gewesen, und Stenka und Sam und die Leute in den Pariser Agenturen hatten sie herablassend behandelt, als es ihr nicht gelingen wollte, sich vor der Kamera aufzuspielen. Und Nichtigkeit auch in Stockholm, wo sie zu Beginn des Frühjahrs ihre letzten Fototermine absolviert hatte, und die gleiche Nichtigkeit bei den dämlichen Partys in Helsingfors für die Leute, auf die es ankam . Und nun, im Sommer, hatte das Grau sogar die Boehmsche Familieninsel Aspholm erobert, wohin sie sich zwischen ihren Reisen stets zurückzog. Die Insel war ihre letzte Zuflucht gewesen, der letzte Ort, an dem sich ihr Körper noch sonnenwarm und katzenweich und stark fühlte, an dem es in ihren Beinen zuckte, an dem ihre Gedanken sich wirklich wie ihre eigenen anfühlten. Jetzt aber nicht mehr, nicht einmal da draußen auf der Insel, und ja, sie war schon so gut wie verrückt, das wusste sie natürlich, so wurde dieser Zustand doch genannt, so lautete die Übereinkunft; wer aufhörte zu heucheln, wer sich mit offenen Augen der Leere des Lebens stellte und sich die Existenz des Graus eingestand, der musste mit der Bezeichnung leben: nervenkrank. Geisteskrank. Verrückt.
Ariel war bereits seit über einem Jahr fort, Jouni traf sie auch nicht. Schon als Ariel bei ihr saß und Kekse aß und Tee trank, hatte sie gesagt: Ich werde mit jemandem reden, ich weiß nur nicht, mit wem. Aber sie hatte es nie getan. Ebenso wenig hatte sie auf Ariels Gitarre gespielt, sie lag eingeschlossen in ihrem Koffer, sie verstand nichts von elektrischen Instrumenten.
Sie hatte ausgeharrt. Sie würde es schaffen. Aber in diesem Frühjahr war sie geflohen. Sie hatte Stenka und Karnow angewiesen, sie nicht mehr zu buchen, Stenka hatte sie gesagt, überall in ihrem Inneren liefen Grautiere und Dunkeltiere, sie müsse allein sein. Stenka hatte sie gelangweilt angesehen, keine Miene verzogen, kein Wort des Trostes über die Lippen gebracht. Aber er hatte getan, worum sie ihn bat. Sobald das Eis geschmolzen und die schlimmste Kälte gewichen war, fuhr sie nach Aspholm hinaus und wohnte im Haus ihrer Großmutter, denn im Haus der Familie erinnerten die Cinzano-Untersetzer und die schwarzen Aschenbecher und Görans Bücher mit Titeln wie »Wir kämpften für unsere Freiheit« an Dinge, die sie ebenfalls vergessen wollte. Hello darkness, my old friend. I turned my collar to the cold and damp . Genau das hatte sie in diesem Frühling und Frühsommer getan, sie hatte da draußen in der Kühle und Feuchtigkeit gehockt und gefroren wie eine hilflose Puppe, poupée de cire , so kam es am Ende immer, das Mädchen wurde zur Puppe in dem dämlichen Lied, das sie anfangs nicht hatte singen wollen, Adriana hatte immer noch Jounis ironische Stimme im Ohr, als er ihr vorschlug, dass sie France Gall singen solle.
Jouni: Auch er war fort, aus ihrem Leben verschwunden, manchmal sah sie ihn in diesem Fernsehprogramm, Poparena! , das höchst umstritten war und vielen älteren Leuten missfiel, genau wie vielen jüngeren, die Kritiker schrieben, dass sich die Leute nur gegenseitig ins Wort fielen und Jouni Kälte und Arroganz ausstrahle. Adriana hatte die Sendung ein paar Mal gesehen und gab ihnen Recht, das war nicht der Jouni, den sie gekannt hatte, das war nicht der Junge, der lachende Augen hatte und sich um andere Menschen kümmerte. Diesen Jungen hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen, denn als sie sich im letzten Sommer zufällig im Kellarikrouvi begegnet waren, war Jouni hart und abwesend gewesen, viel mehr dieser Fernseh-Jouni als der Jouni, der in ihrem Trio die tiefen Stimmen
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