Geh nicht einsam in die Nacht
wenig vertieft haben. Sie muss mindestens fünfundsechzig sein, aber man würde niemals auf den Gedanken kommen, dass sie so alt ist. Warum hat sie nie geheiratet, wollte sie keine Kinder und all das?
Es schien fast, als hätte Lucie Adrianas Gedanken lesen können, denn sie streckte sich nach der Zuckerdose und sagte: »Dieses ständige Tante hier und Tante da hat mir früher nichts ausgemacht, noch als Eva zur Welt kam, fand ich es ganz lustig. Aber so langsam werde ich richtig alt. Im Herbst werde ich siebzig und will keine falschen Titel mehr haben. Meine einzige Schwester starb jung, so dass ich mütterlicherseits niemals Tante werden durfte.«
»Wie langst wohnst du hier schon … Lucie?«, fragte Adriana. Die Wohnung lag in der Södra Hesperiagatan, und Adriana hatte frühe Erinnerungen an sie, Erinnerungen, in denen sie ein Mädchen mit Zöpfen und einem karierten Rock war.
»Seit dem Sommer der Olympischen Spiele, 1952. Damals kehrte ich zum letzten Mal aus Paris heim und beschloss, dass endlich Schluss sein müsse mit dem ständigen Hin und Her. Im Übrigen liegt sie in der Nähe des Krematoriums, es sieht also ganz so aus, als wäre ich damals äußerst vorausschauend gewesen. Aber daran habe ich damals natürlich nicht gedacht.«
Adriana konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. In ihrer Gemütsverfassung wäre sie in Tränen ausgebrochen, wenn ein anderer das Krematorium erwähnt hätte. Aber Lucie war nicht wie andere: Aus ihrem Mund klang fast alles ironisch.
»Wann bist du das letzte Mal hier gewesen?«, erkundigte sich Lucie und musterte Adriana nachdenklich. »Ist das nicht schon ziemlich lange her?«
Adriana nahm eine Leinenserviette vom Tablett, faltete sie auseinander, legte sie sich auf den Schoß und sah aus den Augenwinkeln die hübsch gestickten Initalien: LL , Louise Lilliehjelm. Sie durchforstete ihre Erinnerung. »Vor zwei Jahren, glaube ich«, sagte sie. »Ich war hier und habe dir die Hüte und ein paar andere Dinge zurückgebracht. Sachen, die ich mir geliehen hatte.«
»Stimmt, ja, die Hüte«, sagte Lucie geistesabwesend. »Du hattest irgendeinen Fototermin mit dieser Gruppe, in der du gesungen hast. Ach ja …«
Sie verlor sich in ihren Gedanken. Lucie war geistesgegenwärtig und scharfsinnig, aber manchmal wurde sie ein wenig wirr: In der Verwandtschaft scherzte man nicht selten darüber, dass Tante Lu plötzlich wie ein Ballon abheben, in ihre eigenen Sphären davonschweben, freundlich unnahbar werden konnte, nur um plötzlich zurückzukehren und genauso aufmerksam und alles und jeden durchschauend zu sein wie zuvor. So auch jetzt. Sie sah Adriana in die Augen und sagte:
»Das ist wirklich eine freudige Überraschung, Addi. Ich habe nicht mehr viele Freundinnen und auch nicht viele Kavaliere. Und der Juli ist der leerste aller Monate. Aber Hand aufs Herz: Du bist nicht ganz du selbst. Was ist los, macht es dir keinen Spaß, ein Mannequin zu sein?«
Adriana wurde von den direkten Worten überrumpelt und bekam Probleme, den Tee zu schlucken, den sie gerade im Mund hatte: Trotz des sanften Lichts im Raum war die Nichtigkeit sofort da. Natürlich sieht sie es, dachte Adriana, so ist sie immer schon gewesen, sie sieht wirklich alles.
Sie überlegte, wo sie anfangen sollte, fand nicht die richtigen Worte, versuchte es aber trotzdem. »Ich …«, sagte sie, spürte jedoch, wie sich ihr augenblicklich die Kehle zuschnürte. Sie sah schnell auf den Tisch hinunter, damit Lucie nicht merkte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Sie versuchte, ihre Teetasse zu heben und noch einen Schluck zu trinken, aber ihre Hand zitterte, und sie musste die Tasse wieder abstellen.
»Verdammt!«, schluchzte sie, denn sie konnte es nicht mehr verhindern, der kleine Gefühlsausbruch übermannte sie einfach.
»Aber liebes Kind«, sagte Lucie, lehnte sich vor und strich Adriana unbeholfen über den Unterarm. »Jetzt isst und trinkst du erst einmal, und dann unterhalten wir uns. Macht es dir etwas aus, wenn ich rauche? Ich habe im Elite spät zu Mittag gegessen und bin nicht hungrig.«
In den folgenden zehn Minuten aß Adriana frisches Haferbrot mit Gouda und Butterkäse und Skorpa mit Honig und trank zwei Tassen Tee. Lucie saß zurückgelehnt auf der Couch und rauchte einen Zigarillo, den sie einem Silberetui entnommen hatte. Das Licht, das vom Park und vom Meer hereinströmte, wurde minütlich voller, mittlerweile war es fast orange. In der Küche tickte eine Wanduhr. Ein Lüftungsfenster
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