Geh nicht einsam in die Nacht
stand offen, man hörte den Abendwind abflauen, wenn er draußen durch die Bäume strich.
»Soll ich etwas Musik auflegen?«, fragte Lucie, als längere Zeit keiner etwas gesagt hatte. »Oder den Fernseher anstellen?«
»Nein, danke«, antwortete Adriana, »das ist nicht nötig. Es ist schön so.«
»Möchtest du vielleicht einen Likör?«, fragte Lucie. »Oder ein Glas Wein?« Sie sah Adriana forschend an und ergänzte still: »Aber vielleicht sollte ich dir das gerade nicht anbieten.«
Adriana schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, ich möchte nichts.« Nachdem sie Brote gegessen und süßen Tee getrunken hatte, ging es ihr besser, aber sie fühlte sich immer noch zerbrechlich und versuchte deshalb, ihre Stimme hart und tonlos zu machen, als sie weitersprach: »Aber ich bin keine Alkoholikerin, falls du das glauben solltest.«
Lucie sah sie freundlich, aber bestimmt an und sagte: »Ich glaube gar nichts, Addi. Bis du mir erzählt hast, was dich so traurig gemacht hat, glaube ich nichts.«
Adriana wirkte ratlos: »Ich bin gekommen, weil ich mit jemandem reden muss, aber ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Außerdem will ich nicht alles erzählen.«
»Du sollst so viel erzählen, wie du erzählen möchtest, und nicht mehr«, erwiderte Lucie. Adriana sagte nichts, ließ sich vielmehr tiefer in ihren Stuhl sinken und zwirbelte eine kastanienbraune Locke um ihren Zeigefinger, ihre Fingernägel waren ganz abgekaut. Als Adriana stumm blieb, fuhr Lucie fort: »Gute Ratschläge erteilt man, wenn man zu alt geworden ist, um mit schlechtem Beispiel vorauszugehen. Aber ich versuche es gern, ich nehme an, dass ich die nötige Qualifikation dafür besitze.«
Adriana lächelte, aber sie lächelte unter Tränen: Ihr Gesicht war vollkommen regungslos, und die Tränen waren wie aus dem Nichts aufgetaucht.
»Ich habe mich bei dir nie für die Platte bedankt, die du mir geschenkt hast«, sagte Lucie. »Als du mit den Hüten gekommen bist.« Sie verstummte kurz, ergänzte dann jedoch: »Die Platte ist schön. Beide Stücke. War es nicht so, dass ihr das eine Lied selbst geschrieben habt?«
»Ariel«, sagte Adriana. »Ariel hat es geschrieben.«
»Ariel, ist das der Blonde und Hagere?«
Adriana nickte.
»Das Singen fehlt dir?«
Adriana nickte erneut.
»Genau wie die Jungen.«
»Stimmt«, gestand Adriana. »Sie fehlen mir, aber nicht so, wie du denkst. Obwohl, der eine vielleicht schon … ein bisschen.«
»Der jetzt beim Fernsehen ist«, testete Lucie das Eis.
Adriana nickte noch einmal.
»Ich habe mir seine Sendung ein paar Mal angesehen«, sagte Lucie. »Ich gehöre zwar nicht unbedingt zur Zielgruppe, aber mittlerweile habe ich viel Zeit zum Fernsehen.« Sie sah Adriana an, und ihr Blick war fest: »Dieser Manner … ich hoffe, du verzeihst mir, aber ich mag ihn nicht. Er wirkt irgendwie herzlos.«
Adriana schüttelte den Kopf und sagte: »Früher war er nicht so. Nur manchmal. Er konnte auch nett sein. Aber du darfst nicht glauben, dass ich … dass wir … daraus wurde nie etwas.« Sie verstummte kurz, sprach dann jedoch weiter: »Ja, ich sehne mich nach der Zeit zurück, in der wir herumgefahren sind und gesungen haben. Aber es kommt mir vor, als wäre das alles schon eine Ewigkeit her.«
»Vielleicht könnt ihr ja noch einmal von vorn anfangen«, sagte Lucie leichthin. Adriana erinnerte sich plötzlich, dass Lucie eine schöne Stimme hatte, denn als sie ein Kind war, hatte Lucie für sie gesungen, sogar als Eva klein war, hatte sie noch gesungen, aber keine braven Wiegenlieder oder Hoppe, hoppe, Reiter, sondern Jazzballaden und alte Schlager.
»Ich glaube nicht«, sagte Adriana. »Und worüber soll man auch noch singen?«
»Jetzt stell dich nicht so an!«, sagte Lucie schneidend. »Du bist jung, für dich gibt es unendlich viel, worüber du singen kannst.«
Die scharfen Worte ließen Adriana zusammenzucken, sie sagte: »Aber es sollte so schön werden. Und dann ist das daraus geworden.« Sie verstummte, aber dann sah sie auf den Teppich herab und murmelte: »Mein … ich fühle mich so schmutzig.«
»Aber liebes Kind …«, sagte Lucie. Sie betrachtete Adriana forschend und fragte dann:
»Wie viele Liebhaber hast du gehabt?«
Adriana zuckte erneut zusammen, zögerte kurz und sagte: »Fünf … sechs.« Sie log, sie wusste, dass es mehr waren, wenn sie nachzählte.
»Das sind nicht besonders viele«, meinte Lucie. »Du nimmst diese Pille?«
Adriana nickte, und Lucie sah, dass sie allmählich
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