Geh nicht einsam in die Nacht
wieder rastlos wurde, so rastlos, wie sie gewesen war, als sie an der Tür geklingelt hatte: Sie biss auf einer ihrer Fingerkuppen, und ihr Blick flackerte.
»Aber du bist nicht mit den beiden ins Bett gegangen, mit denen du gesungen hast«, stellte Lucie eher fest, als dass sie es fragte.
Adriana entsann sich des unwirklichen Morgens mit Ariel in der Havsgatan: der Sommersturm, das graue Licht, die grün schäumende Meeresbucht, sein schmächtiger Leib, sein pferdehaftes Gesicht über ihr, sein leises Tschüss , als er ging. »Nee«, sagte sie, »dazu ist es nie gekommen.«
Sie sah Lucie ernst an, die nicht zu wissen schien, was sie sagen sollte: Statt zu sprechen, lehnte sich ihre Gastgeberin vor und zupfte einen neuen Zigarillo aus dem Etui, griff nach einem Feuerzeug auf dem Tisch, zündete ihn an.
»Das ist alles so seltsam«, sagte Adriana. »Alle hocken zusammen und reden die ganze Zeit. Sie reden über Unterdrückung und Befreiung und darüber, dass jetzt die Zeit reif sei, mit dem Alten abzurechnen. Aber sie vertreten alle haargenau die gleiche Meinung. Und wenn ihnen jemand widerspricht, schauen alle anderen sie oder ihn mit den gleichen kalten Augen an wie die Lehrer früher, wenn man ihnen in der Schule widersprach. Was ist das denn für eine Freiheit?« Sie verstummte kurz und ergänzte dann: »Wenn sie lange genug geredet haben, denke ich immer an früher, als ich zehn war und barfuß auf Aspholm herumgelaufen bin und mit niemandem reden musste.«
Lucie zog an ihrem Zigarillo, blies den Rauch aus und sagte: »Manchmal bekomme ich Lust zu erzählen, euch jungen Leuten von meinen alten Freunden und mir zu erzählen. Damit ihr begreift, wie ähnlich wir euch waren.«
»Ja, erzähl«, sagte Adriana.
»Nein, ich glaube nicht«, sagte Lucie. »Es sind so viele von ihnen tot, und ich will sie in Frieden ruhen lassen.« Sie aschte auf den nächststehenden Teller und fuhr fort: »Aber ich kannte einmal einen Fotografen, der zu sensibel für die Welt war, die er durch seine Linse sah. Und ich kannte eine junge Frau, die es nicht wagte, sie selbst zu sein. Ich kannte einen Philosophen, der sich nie für eine Seite entscheiden konnte. Und einen Mann, der ein erfolgreicher Geschäftsmann war und die rauschendsten Feste der Stadt gab, anderen Menschen jedoch niemals nahekam. Und einen anderen Mann, der vielen nahekam, aber so halsstarrig war, dass er wegen nichts und wieder nichts in den Tod ging.«
»Warst du eine von ihnen, warst du die junge Frau?«, fragte Adriana.
»Ich war keine von ihnen. Aber ich habe Dinge gesehen, Addi. Es gibt so vieles, für das es so viel schneller zu spät ist, als du glaubst. Und es ist schwer, anderen Menschen Ratschläge zu geben. Ich kann dir nicht sagen, ob du dich verhärten oder ob du versuchen sollst, mit deiner Sensibilität zu leben. Beide Wege können funktionieren, und beide können in einer Katastrophe enden, ich habe beides gesehen.«
Sie machte eine Pause und betrachtete den Zigarillo, an dem die Aschensäule wieder lang geworden war. Adriana wartete auf eine Fortsetzung. Lucie wartete, bis die Asche auf den Teller gefallen war, und sagte: »Im Grunde kann ich dir nur zwei Dinge sagen. Diese Sache, ein gefeiertes Kind seiner Zeit zu sein, wird überschätzt, was heute strahlt, ist nächstes Jahr schon Schnee von gestern.« Sie lehnte sich vor, drückte den Zigarillo aus und ergänzte: »Und man muss sich selber mögen, sonst überlebt man nicht.«
* * *
Die Parkanlagen standen noch in Brand, aber an diesem Morgen waren die gelben und roten Farben der Laubbäume in einen dämpfenden Regenschleier gehüllt. Jouni parkte seinen weißen Fiat 600 unter Elinas Fenster und trat auf die Straße hinaus. Es war Oktober, und die neuen Schlüssel klirrten in seiner Tasche, sowohl sein eigener Schlüsselbund als auch der, den Elina bekommen würde. Er ging um die Hausecke und stand auf dem offenen Hof zwischen den flachen Holzhäusern. Es war eine lehmige Sandfläche, nicht mehr, und es hatte schon lange niemand mehr Sand gestreut: der Berggrund, die rauen Felsen, auf denen die Stadtteile Berghäll und Alphyddan ruhten, lugte überall heraus. Vor dem Hinterhaus standen zwei Feldbetten, beladen mit abgewetzten Flickenteppichen und mottenzerfressenen Matratzen. Die Treppen, die zu den Fluren und Wohnungen hinaufführten, waren grau, rissig und morsch. Zwei Türen des Plumpsklohauses standen offen, eine von ihnen hing an nur einem Scharnier, die Tür knarrte im schwachen
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