Geh nicht einsam in die Nacht
große Schwester Minna schon Probleme mit Männern hatte, überspielte sie es gut. Der Einzige, der zur Sorge Anlass gab, war der zweitälteste Bruder Make, der zur gefürchteten Rosarigang gehörte und häufig Ärger mit der Polizei hatte. Aber Make war fast nie zu Hause, und ich denke, Veka Everi hatte keine Ahnung, dass sein Sohn tatsächlich der Anführer der Rosarigang war, und ich glaube auch nicht, dass Veka im Blick hatte, wie viel Haschisch Make rauchte oder wie viel er trank. Zu Hause im Stationsvägen schienen alle guten Mutes zu sein und die anderen Kinder Veka zu vertrauen und sich untereinander gut zu verstehen. Manchmal konnte ich es mir nicht verkneifen, die Stimmung dort mit der in meinem Elternhaus zu vergleichen. Auch wir behandelten einander freundlich, darum ging es nicht, aber unsere Wohnung war groß, und wir waren so wenige, und sowohl Henry als auch Leeni waren sich selbst genug und stets beschäftigt, Leeni mit ihren Schüleraufsätzen und Büchern und Henry mit seinen Kalkulationen und Berichten. Und ich war genauso, ich war ein loner , obwohl man das Wort damals im Schwedischen noch gar nicht benutzte, und manchmal kam es mir vor, als würden Henry, Leeni und ich uns aus den Augen verlieren, wir verloren uns gegenseitig, obwohl wir uns alle in derselben Wohnung am hinteren Ende des Tannervägen aufhielten.
Ich ging mit anderen Worten möglichst oft zu den Everis. Dass sie Finnisch sprachen, störte mich nicht. In unserem Reihenhaus sprachen wir Schwedisch, wenn Henry zu Hause war, während Leeni und ich uns oft auf Finnisch unterhielten, wenn wir zu zweit waren. Mein Finnisch war auch damals schon ziemlich gut: Ich nehme an, dass ich zu der Sorte Mensch gehöre, die von den Soziologen später »der Mischmasch« getauft wurde, will sagen zweisprachige Stadtkinder, die keine großen Gefühle für den schwedischsprachigen Teil ihrer Identität hegen. Aber ich habe Menschen nie in dieser Weise aufgeteilt. Es ist mir egal, welche Sprache die Leute sprechen, ob sie arm oder reich sind, zu welcher Religion oder Ideologie sie sich bekennen. Das einzige funktionierende Maß für Menschlichkeit besteht darin, ob man sich anderen gegenüber anständig verhält oder nicht. Und Pete Everi und sein Vater Veka waren anständige Menschen. In diesen ersten Jahren bestanden sie darauf, mich die halbe Wegstrecke nach Hause zu begleiten, vor allem freitags oder samstags. Die Straßen am Einkaufszentrum und der Eisenbahnlinie waren an den Wochenenden nicht ganz ungefährlich, aber Veka Everi war ein großer und kräftiger Mann, fast einen Meter neunzig groß, und auch Pete war für sein Alter groß. Also ging ich mit den beiden durch den dunklen Samstagabend, fühlte mich sicher und schaute mich um, betrachtete die Hochhausreihe des Stationsvägen, wo in Hunderten von Fenstern Licht brannte, betrachtete das Einkaufszentrum, das abendlich beleuchtet und leer lag, aus dem jedoch Musik und betrunkenes Gegröle aus der Kneipe Männynlatva, Kiefernwipfel, herüberschallte, betrachtete die Anhöhe Rosari, die finster und wuchtig jenseits der schummrig beleuchteten Eisenbahnschienen und des ebenso schummrigen Bahnhofs thronte. Und als zwei Jahre verstrichen waren und ich bereits ein Teenager war, bestanden Veka und Pete weiterhin darauf, mich bis zum Suviovägen zu begleiten – dort endeten die Hochhäuser und die Eigenheimsiedlung begann, ein Wäldchen trennte die beiden Welten –, und dann dachte ich stets, dass dieser seltsame Ort Tallinge, eine in kürzester Zeit aus dem Boden gestampfte Vorstadt, weil die Menschen aus dem Norden des Landes nach Helsingfors ziehen mussten, um Arbeit zu finden, tatsächlich meine Heimat geworden war. Und dass Pete Everi mein Freund war, ein richtiger Freund, nicht nur ein Bekannter, der einen in seiner Nähe duldete, während er oder sie auf etwas Besseres wartete. Einen Freund wie Pete hatte ich vorher nie gehabt, weder in Botby noch in der Eriksgatan.
* * *
Bevor ich die Geschichte von Pete Everi, Eva Mansnerus und mir fortsetze, muss ich etwas mehr über Leeni, Henry und das Leben im Tannervägen erzählen.
Unsere Straße war nach einem Politiker namens Väinö Tanner benannt. Tanner war tot, aber vor seinem Tod war er an den meisten Dingen beteiligt gewesen, die sich in den vorangegangenen sechzig Jahren in Finnland ereignet hatten. Trotzdem hatte er sich mit einem kleinen, schlampig asphaltierten Straßenstück im abgelegenen Vorort Tallinge bescheiden müssen. Dieser
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