Geh nicht einsam in die Nacht
anspruchslose Nachruhm war kein Zufall. Tanner war der Sowjetunion nämlich ein Dorn im Auge gewesen, weshalb es seltsam anmutete, dass überhaupt ein Straßenstück nach ihm benannt worden war: Wahrscheinlich ließ sich das nur durch einen Irrtum in irgendeinem Planungsbüro erklären.
Dies gehört zu den Dingen, die ich mir hinterher angelesen habe, als ich in meiner Jugend im Tannervägen wohnte, hatte ich davon keine Ahnung. Dabei sind es Dinge, die Leeni mir problemlos hätte erzählen können, wenn ich jemals auf die Idee gekommen wäre, sie zu fragen. Meine Mutter kannte sich nämlich nicht nur in ihren Fächern Englisch und Schwedisch aus, sie war auch sonst ein vielseitig gebildeter Mensch. Das verkündete Henry mir gegenüber eines Sommers, als ich schon auf das Gymnasium ging, er sagte es in unserem Sommerhaus in Svartviken, während eines meiner immer selteneren Besuche dort. Im selben Atemzug bekannte Henry – es war das einzige Mal in meiner Kindheit, dass er darauf einging –, dass Leeni ihm in praktisch jeder Hinsicht überlegen war: Er selbst verstand bloß etwas von Verkaufsstrategien und Marketing und Country and Western, gestand er an jenem Abend, während Leeni sich in vielen Bereichen auskannte.
Leeni war groß, hager und blass, sie hatte eine schwer bestimmbare Haarfarbe, die man möglicherweise als aschblond bezeichnen könnte. Als junge Frau war sie ziemlich hübsch gewesen, jedoch schneller gealtert als viele andere. In meiner Teenagerzeit war Leeni erst Mitte dreißig, aber in meinen Augen war sie unglaublich alt. Ganz zu schweigen von Henry, der fast zehn Jahre älter war: fünfundvierzig, ein Methusalem.
Leeni besaß eine stille Würde, die ich immer mit ihrem Beruf verknüpfte. Heute glaube ich, dass ich mich damals irrte, sie war einfach so. Aber ich war froh, dass Leeni nicht in meiner Schule unterrichtete, denn sie gehörte zu diesen staubtrockenen Paukergestalten, die bei den Schülern eher unbeliebt waren. Kindern und Jugendlichen gefallen Lehrer, die auch einmal einen Scherz machen und selbstironisch sein können, Lehrer, die durchblicken lassen, dass sie früher auch einmal jung gewesen sind und gegen die Normen verstoßen haben, für deren Einhaltung sie nun sorgen sollen. Solche Lehrer vermitteln den Kindern ein Gefühl von Mitmenschlichkeit und Hoffnung, dürfen allerdings nicht mit denen verwechselt werden, die als einer von den Kids, nur ein bisschen älter zu posieren versuchen: Das durchschauen Schüler ausnahmslos als die falsche Anbiederung, die es auch ist. Für Letzteres bestand bei Leeni jedoch nie Gefahr. Leeni blieb auf Distanz und hätte es niemals zugegeben, niemals auch nur angedeutet, dass sie in ihrer Jugend gegen Regeln verstoßen, die Schule geschwänzt oder die Hausaufgaben vergessen hatte oder ihren Lehrern gegenüber vorlaut gewesen war.
Leeni war stets korrekt, und manchmal wirkte sie fast schon unnatürlich kühl. Ich weiß, dass es an ihrer Schule Schüler gab, die sie furchterregend fanden.
Als ich älter wurde, war Leeni mir eine große Hilfe. Je mehr ich mich für Dichtung und Musik interessierte, desto besser verstanden wir uns. Als ich anfing, Texte für die Lieder zu schreiben, die Pete Everi für seine Kellerband komponierte, wurden meine Noten in Englisch besser, erst verbesserte ich mich von acht auf neun und schließlich auf eine glatte Zehn. Leeni merkte, was los war, und steckte mir Bücher zu. Es waren nicht immer die Bücher, die ich am liebsten bekommen hätte: Meiner Mutter waren Lennon, Dylan und Cohen nicht völlig fremd, aber ihr Geschmack war eher klassisch britisch orientiert, von Blake, Wordsworth und Coleridge zu Eliot, Dylan Thomas und W. H. Auden. Ich erinnere mich, dass ich einen grauen Wintersonntag mit diesen sterbenslangweiligen Daffodils verbrachte: Mein Verhältnis zu Osterglocken ist seither nachhaltig gestört. Und Coleridges Gedicht über Kubla Khan war trotz aller opiumberauschten Visionen genauso trist. Aber es gab Texte von Eliot, Auden und Thomas, die mir gefielen, und als ich kurz vor dem Abitur stand und mich auf die Klausuren vorbereitete, las mir Leeni abends oft ihre Lieblingsgedichte vor. Zu der Zeit waren Eva Mansnerus und Pete Everi aus Tallinge in die Stadt gezogen, so dass ich dort noch einsamer war als zuvor. Heute, viel später, ist mir klar, dass Leeni genauso einsam war, denn Henry war in diesen letzten Jahren selten zu Hause, er machte Überstunden im Büro, reiste nach Åbo und Tammerfors, wo
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