Geh nicht einsam in die Nacht
das Unternehmen Filialen unterhielt, und fuhr sogar zu Konferenzen ins Ausland, nach Stockholm oder Hamburg. Und an den Abenden und Wochenenden, die er zu Hause verbrachte, war es ruhiger und stiller denn je, Leeni und er saßen in unterschiedlichen Ecken der Wohnung und lasen, oder der eine sah fern, während der andere arbeitete, sie machten nie etwas gemeinsam.
Der Umstand, dass ich achtzehn geworden war, aber meiner Mutter zuhörte, wenn sie Thomas Stearns Eliots und Dylan Thomas’ Gedichte rezitierte, erschien mir manchmal schon ein wenig ödipal und eigenartig. Dabei war mir nicht einmal bewusst, dass Leeni auch früher schon Gedichte vorgetragen hatte, und zumindest einmal mit schicksalsschweren Folgen. Trotzdem weiß ich, dass unsere poetischen Momente in dem Reihenhaus eine gute Sache waren: Die Erinnerung an sie, an die Gemeinschaft, machte es mir viel später, als die Fassade bröckelte, ein bisschen leichter, mit ihr zu sprechen.
Es fiel mir leichter, mit Leeni zu sprechen als mit Henry. Aber sie waren beide nicht einfach, und aus der Ehe meiner Eltern wurde ich niemals schlau. Das große Rätsel lautete, wie sie einander gefunden hatten, obwohl sie so unterschiedliche Menschen waren.
Henry hatte das Schwedische Reallyzeum im innerstädtischen Stadtteil Kronohagen besucht. Wenn er über seine alte Schule sprach, was eher selten vorkam, redete er nie vom Reallyzeum, sondern immer nur vom »Revan«. Die Menschen in der Innenstadt sind so, in beiden Sprachen, sie haben immer niedliche oder hässliche Spitznamen für ihre Schule: Norsen, Lärkan, Lönkan, Zillen, Revan, Ressu, Sykki, Norssi. In Tallinge waren wir nicht so sentimental, die Schwedische Gemeinschaftsschule Tallinge wurde SGT genannt, sonst nichts. Die finnischen Kinder tauften ihre Männistön Yhteiskoulu , ihre Gemeinschaftsschule Männistö, dagegen in Mykkä um, was auch stumm bedeutet.
Das Reallyzeum im Stadtteil Kronohagen war, wie ich später recherchiert habe, unter anderem auch für seine Fähigkeit bekannt, die faulen und begriffsstutzigen Söhne reicher Familien zum Abitur zu lotsen. Henry Alarik Loman stammte allerdings aus keiner reichen Familie, im Gegenteil: Gerda und Axel, meine Großeltern väterlicherseits, waren bettelarm, obwohl sie mitten in der Stadt wohnten. Mein Vater sprach nur ungern über seine Kindheit, aber wenn er es tat, erzählte er, dass damals nach dem Krieg überall in Helsingfors arme Menschen wohnten, Mittellose gab es in jedem Stadtteil, denn das ganze Land war verarmt, und kaum jemand lebte in Saus und Braus. So war es jedenfalls in den Stadtteilen Kronohagen und Rödbergen, in denen Henry aufwuchs.
Normalerweise versuchen Leute, die aufgestiegen sind, ihre einfache Herkunft dadurch zu verbergen, dass sie sehr viel Wert auf Etikette legen und zu Snobs und etepetete werden. So war Leeni, während Henry darauf beharrte, das genaue Gegenteil zu sein. Deshalb musste ich auf allen Ebenen einen Zweikampf zwischen T. S. Eliot und Charley Pride aushalten.
Henry war häufig schweigsam, fast abweisend, während Leeni eine angeregte und höfliche Konversation führen wollte. Aber wenn sie Gäste hatten und Wein und Drinks anboten (Leeni nahm keine Drinks, sie trank nur Wein und gelegentlich ein Glas Likör), wurde Henry auf einmal laut und lustig, woraufhin Leeni immer schweigsamer wurde, je weiter der Abend fortschritt: Wenn sie überhaupt etwas äußerte, geschah es in Form von bissigen, gegen meinen Vater gerichteten Sarkasmen.
Henrys Witze waren nur selten geschmackvoll, und er verstand es selbst dann nicht, die Spreu vom Weizen zu trennen, wenn die Besucher seine Vorgesetzten waren. Sein Chef, Direktor Bacher, war ein kultivierter älterer Gentleman inklusive Brille mit Goldrand, großem Mercedes und einer zwanzig Jahre jüngeren Frau aus dem Ausland. Als Bachers zu einem Samstagssouper bei uns zu Gast waren, beschloss Henry, den uralten Witz über den finnischen Mann zu erzählen, dem bei einer internationalen Soirée beim Nachtisch ein Rülpser entfährt. Der Mann wendet sich daraufhin seiner Tischdame zu und sagt Excuse me, but in Finland we always rape after dinner. Der Witz lässt sich nicht übersetzen, er basiert auf der Ähnlichkeit zwischen dem schwedischen Verb »rapa« für rülpsen und dem englischen Verb »rape«, das vergewaltigen bedeutet. Frau Madeleine Bachers Muttersprache war jedoch Französisch, und Schwedisch sowie Englisch beherrschte sie nur bedingt, so dass Henry zu einer
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