Geh nicht einsam in die Nacht
zu lassen, und hatte auf dem Rückweg eine Offenbarung. Der Felsblock war glatt und oben ein wenig gerundet, und an seiner Vorderseite, wo die Mitglieder der Gang wie üblich an die raue und mannshohe Wand gelehnt saßen, gab es zwei symmetrisch liegende Aushöhlungen, zwei dunkle, bogenförmige Linien, die mit etwas Fantasie zwei fast perfekte Kreise auf gleicher Höhe bildeten. Pesonen rührte sich nicht vom Fleck und begriff nicht, wie er sich so oft an dem Felsen hatte aufhalten können, ohne das Selbstverständliche zu sehen.
Ein Scheitel, eine Glatze, und darunter eine große Brille.
Urho Kekkonen. Urkki. UKK . The Prez.
Pesonen rief die anderen zu sich, und da dies an einem Freitagabend im Juli geschah und keiner auch nur ansatzweise nüchtern war, wurde ihm eifrig zugestimmt. Alle sahen das Gleiche: Die Natur hatte die Büste eines großen Mannes erschaffen oder vielmehr ein Relief, das den immer wiedergewählten Präsidenten, den Doktor der Rechte Urho Kaleva Kekkonen so subtil und zugleich originalgetreu abbildete, wie es keinem sozialrealistischen Bildhauer jemals gelungen war, Lenin, Stalin oder Marx zu gestalten. Make Everi, der ein guter und gescheiter Schüler gewesen war, ehe er Gefallen an Stimulantien und am Landstreicherleben gefunden hatte, erinnerte die anderen daran, wie passend dies war, denn Tallinge gehörte zu den Vororten von Helsingfors, denen Kekkonen einen Besuch abgestattet hatte: Der Präsident hatte bei der Eröffnung des Einkaufszentrums im Herbst vierundsechzig das Band durchschnitten. Auch Pave Pesonen war nicht auf den Kopf gefallen, auch er konnte wie Make auf eine Vergangenheit als Streber zurückblicken, und so legte sich nun ein verklärtes Licht auf sein Gesicht. »Mount Rushmore«, sagte er, »der Ort in den USA, an dem vier Präsidenten aus dem Fels gemeißelt wurden.« »Jep, in South Dakota«, flankierte Make in einem schwachen Echo jener Rivalität, die es zwischen ihm und Pesonen gegeben hatte, als sie noch darum wetteiferten, ihre strengen Volksschullehrerinnen zu beeindrucken.
Nach diesem Juliabend war die Schanze nicht mehr irgendein beliebiger Fels, sondern die Kekkonen-Schanze , als eine Art Kompensation dafür, dass es sich nur um einen Felsblock handelte und nicht um eine richtige Schanze, wie es sie in den Stadtteilen Hertonäs und Rönnbacka gab. Und der Schlangenberg hieß fortan Mount Rushmore, was schon bald zu Rosari verkürzt wurde. Und Pave Pesonen wurde nicht mehr Pave, sondern Pot-Pesonen genannt, und diesen Spitznamen wurde er zeitlebens nicht mehr los.
Am besten ist mir in Erinnerung geblieben, wie kalt es da oben war. Der Rosari war selbst im Sommer ein kühler Ort, die Felsen waren kahl, es gab nur wenige Spalten, in denen man Schutz suchen konnte, und es war dort extrem windig. Wer auf dem Rosari vögelte, war hinterher immer erkältet. Im Herbst, Winter und Frühling waren die Verhältnisse regelrecht peinigend. Heulender Wind, kühler Herbstregen, ein sterbender Winter, der sich noch im April zu plötzlichen Schneematschattacken aufraffte. Es rankt sich ein Mythos um die erste Hippiegeneration – Eva Mansnerus’ Tochter Nadia zählt zu meiner Verblüffung Eva und mich dazu –, in dem es um Sonne und Himmel und laue Parks geht, es geht um weichliche Typen, die echte Müslifresser sind, und um Mädchen mit Tunikas und nackten Beinen, es herrscht ewiger Sommer in verblassenden Technicolor-Farben, und im Hintergrund spielen Nick-Drake-ähnliche Liedermacher Gitarre und singen sanfte Lieder mit Titeln, die alle ein Codewort für Marihuana sind. Ich sah nicht viel davon. Im Gegenteil, entscheidend war, seine Handschuhe nicht zu vergessen. Und die Mädchen, die darauf bestanden, mit nackten Beinen herumzulaufen, bekamen eine britisch bläulich blasse Farbe im Gesicht und auf Waden und Oberschenkeln. Außerdem hörte kein Schwein Nick Drake, der zur selben Zeit zu Hause lag, an Depressionen starb und Fingernägel hatte, die so lang waren, dass er nicht mehr Gitarre spielen konnte.
Aber wir gingen trotzdem auf den Rosari und hockten fast jeden Abend dort. Denn wo hätten wir sonst sitzen sollen?
Abgesehen davon ist mir aus der ersten Rosarizeit in Erinnerung geblieben, dass Pete Everi damals mein Gitarrenlehrer war. Ich hatte zu Weihnachten eine akustische Gitarre geschenkt bekommen, eine Landola. Pete besaß sowohl eine akustische als auch eine E-Gitarre, Letztere war eine billige japanische namens El Maya. Wir nahmen die Sache sehr ernst. Pete
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