Geh nicht einsam in die Nacht
Verkäuferinnen zu ihren Arbeitsplätzen in der Stadt beförderten. Als wäre das nicht schon genug, hatte Veka Everis Freundin Orvokki in der Konjunkturkrise ihre Arbeit als Krankenschwester verloren. Auch sie hockte mittlerweile im Männynlatva. Die fast vierzigjährige Orvokki gehörte nun zu der Clique, die nachts bei Make und Taru zechte, und Veka wollte nichts mehr von ihr wissen.
Als ich anfing, das Haus von Familie Mansnerus im Waltervägen zu besuchen, entdeckte ich gewisse Ähnlichkeiten mit unserem Leben im Tannervägen. Ich war das einzige Kind und wurde langsam erwachsen, während Henry und Leeni gleichzeitig unausweichlich auseinanderdrifteten. Deshalb war es bei uns zu Hause trostlos und still geworden, und die gleiche trostlose Stimmung herrschte bei Familie Mansnerus.
Eva war kein Einzelkind wie ich, aber der Altersunterschied zwischen ihr und ihrer großen Schwester Adriana betrug dreizehn Jahre. Adriana war zudem von großem Schweigen und einem gewissen Geheimnis umgeben. Es ließ sich nicht feststellen, ob sie arbeitete oder nicht, ob sie gesund war oder nicht. Man bekam nicht einmal eine klare Antwort auf die Frage, ob sie mit der übrigen Familie in Tallinge wohnte oder nicht. Sicher war nur, dass sie manchmal in dem Haus übernachtete: Sie hatte ein eigenes Zimmer in der oberen Etage.
Anfangs war Eva sehr zugeknöpft, wenn es um Adriana ging, später lüftete sie den Schleier ein wenig. Irgendwann – bevor ich meine ersten Worte mit Adriana wechselte – erzählte Eva mir, ihre Schwester sei als blutjunge Frau zu lebenshungrig gewesen, sie sei Sängerin und Fotomodell gewesen und habe diverse Liebhaber gehabt, sie habe ihr inneres Gleichgewicht verloren und kämpfe seither darum, es zurückzugewinnen. Eva ließ darüber hinaus durchblicken, dass Adriana als Verkäuferin in einem Blumengeschäft in der Innenstadt von Helsingfors arbeitete oder gearbeitet hatte, und da Adriana oft längere Zeit von Tallinge fortblieb, nahm ich an, dass sie auch eine Wohnung in der Stadt hatte. Eine andere Möglichkeit lautete, dass sie sich manchmal in einer Klinik aufhielt. Später sollte ich erfahren, dass Adriana das Sommerhaus auf Aspholm liebte und dort draußen viel Zeit alleine verbrachte.
Wenn der Druck der Familie Pete Everi von links traf, so traf der gleiche Druck Eva Mansnerus von rechts.
Evas Mutter Catherine war eine elegante Frau mit einem Gesicht, das einmal schön gewesen, nun jedoch gealtert und aufgedunsen war. Sie wirkte rührselig, und mehr als einmal kam es vor, dass sie einen Vermouth oder Gin Tonic in der Hand hielt, wenn sie mir am frühen Nachmittag die Tür öffnete. Catherine Mansnerus war mehr als fünfzehn Jahre älter als meine Mutter, aber sie und Leeni ähnelten sich, beide vermittelten dem Betrachter das Gefühl, dass sie viel zu früh aufgegeben hatten. Und genau wie Leeni schien Catherine großen Wert auf Anstand und Äußerlichkeiten zu legen. Man merkte ihr an, dass Pete Everi ihrer Meinung nach in ihrem Haus zu lässig und informell auftrat, und dabei war Pete ein wirklich höflicher Mensch. Ich selbst war neurotischer veranlagt als er und fühlte mich in Evas Elternhaus immer beobachtet und unzulänglich. Seltsamerweise schien Catherine Mansnerus mein Unbehagen jedoch zu schätzen. Je steifer und eingeschüchterter ich wurde, desto mehr mochte sie mich und ließ gelegentlich sogar kurze Nebensätze fallen, die andeuteten, dass sie mich als Freund ihrer Tochter vorgezogen hätte.
Göran Mansnerus, Evas Vater, war meinem Vater nicht unähnlich. Genau wie Henry bemühte sich Göran, laut, kraftvoll und nett aufzutreten, was ihm mal besser, mal schlechter gelang. Und genau wie bei Henry konnte man bei Göran mitten in seiner polternden Art etwas Eingeschüchtertes, Geducktes erahnen. An ihm war dieser schwache und ausweichende Zug allerdings stärker ausgeprägt: Bei Henry existierte er nur als eine Ahnung, in Göran brodelte er gleich unter der Oberfläche.
Ich weiß nicht, ob Göran Mansnerus und Veikko Everi sich in den Jahren begegneten, in denen Eva und Pete ein Paar waren. Gut möglich, dass sie eine respektvolle Distanz vorzogen, denn sie befanden sich in diametral entgegengesetzten Lagern. Petes Vater, der eine Berufsausbildung durchlaufen hatte und Installateur gewesen war, bevor er Postbeamter wurde, blieb am Vorabend des 1. Mai, an Walpurgis, immer nüchtern. Für ihn war dieser Abend das Fest des Bürgertums. Am frühen Morgen des 1. Mai fuhr er dann frisch
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