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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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Absichten, ich glaube nicht einmal, dass sie welche hatten. Die Dinge nahmen einfach ihren Lauf, und als ein weiteres Jahr verstrichen und ich aufs Gymnasium gewechselt war, erkannte ich, dass ich ein unverzichtbarer Teil ihrer Beziehung geworden war, fast eine Art jüngerer Bruder ehrenhalber. Stück für Stück hatte ich Einblick in ihr gemeinsames Leben gewonnen und war in das meiste eingeweiht: Nur den Sex, die Tatsache, dass sie miteinander schliefen, behielten sie für sich. Ich selbst schlief mit niemandem. Ehrlich gesagt hatte sich mein Bekanntenkreis auf Pete und Eva reduziert, was ich spätestens an jenem Morgen im August begriff, an dem ich zum ersten Mal zum Gymnasialtrakt der GST hinüberging und mich in der hintersten Ecke von Klasse 1c niederließ. Lauter fremde oder halb bekannte Gesichter, niemand, den ich meinen Freund oder Kameraden nennen konnte, und darüber hinaus die Gewissheit, dass Eva nicht mehr auf die Schule ging: Sie hatte im Frühjahr Abitur gemacht.
    Ein Außenstehender nimmt meine Schilderung der Freundschaft zwischen Eva, Pete und mir vermutlich als schmierig und inzestuös wahr. Im wahren Leben kam uns das alles jedoch ganz natürlich vor. Wer seine Jugenderinnerungen nicht in Formalin versenkt, sondern lebendig bewahrt hat, weiß vielleicht noch, dass es so war: Die Dinge waren nicht einfach und die Normen angenehm verschwommen, man genoss die Gegenwart der anderen und das Gefühl von unbändigem Leben, und die Regeln wurden erst im Laufe des Spiels aufgestellt. Es ist die Furcht späterer Jahrzehnte – die Gründung einer Familie, Karriereambitionen, die Angst, nirgendwo hinzugehören –, die im Nachhinein ein Raster aus trister Zielstrebigkeit über diese Jahre breitete, in denen man eigentlich immer nur suchte. Als wäre alles schon von Beginn an geplant gewesen . Aber das war es natürlich nicht. Wir waren frei. Für ein paar lächerliche, aber vibrierende Jahre hatten wir tatsächlich die freie Wahl.
    Es war niemals eine Dreiecksbeziehung, jedenfalls nicht im sexuellen Sinn. Am Anfang war ich, vor allem für Eva, wie ein kleinerer Bruder, und auch später hatte ich nichts mit ihrem Liebesleben zu tun. Außerdem war Pete geschickt darin, das eine vom anderen zu trennen. Er hatte einen Rivalen, nicht Eva, und so war er es auch, der mit schnellen und scharfen Schnitten die Zeit für ihre Liebe von der Zeit freischnitt, die wir zu dritt verbrachten. Wenn eine Situation auftauchte, in der ich das fünfte Rad war, agierte Pete blitzschnell, ganz gleich, ob wir in der Wohnung im Stationsvägen saßen oder bei Eva im Waltervägen oder draußen auf Aspholm in den Schären von Borgå. »Make yourself scarce, Frankki.« Pete benutzte wirklich manchmal diese englische Phrase, und ich hatte nichts dagegen: Es war besser als das brutale Du bist mein Freund, aber jetzt haust du ab oder du kriegst eine aufs Maul von jenem Frühlingsabend, an dem mir klar wurde, dass die beiden ein Paar waren, ich mich jedoch weigerte, sie in Ruhe zu lassen.
    Wenn wir gemeinsam nach Aspholm hinausfuhren – das erste Mal im Frühjahr siebenundsiebzig –, gingen wir zu unterschiedlichen Zeiten in die Sauna. Sie zuerst und ich zum Schluss, und anschließend blieb ich im Saunavorraum, der mein Schlafplatz war. Eva und Pete schlugen mir oft vor, mit ihnen zusammen in die Sauna zu gehen, aber ich lehnte das Angebot stets dankend ab: Ich wusste, dass ich einen Ständer bekommen hätte, wenn ich Eva splitternackt gesehen hätte. So gesehen gab es nie einen Zweifel, ich wollte Evas Körper haben, träumte jahrelang von ihm. Und das wusste Pete mit Sicherheit. Ich hatte ihm nie erzählt, dass ich Eva ein ganzes Schuljahr auf ihrem Weg in die Stadt beschattet hatte, aber sie hatte ihm bestimmt davon erzählt. Sie begriffen beide, dass ich verrückt nach ihr war, teenagerverrückt, so etwas lässt sich nun einmal nicht verbergen.
    Doch was die komplexeren Gefühle betrifft – Freundschaft, Seelenverwandtschaft, Verständnis –, war ich sicherlich verwirrter, als ich zugeben wollte. Draußen auf Aspholm saßen wir manchmal sechs Stunden oder länger am Küchentisch zusammen und redeten. Die Stehlampe mit ihrem hässlichen geblümten Stoffschirm war eingeschaltet, ansonsten hatten wir Kerzen in allen Zimmern, jede Menge Kerzen. Wir begannen den Abend stets damit, meine letzten Liedtexte durchzugehen, und Eva war dabei, weil auch ihr Englisch gut war. Wir rauchten alle wie die Schlote, ich rauchte Marlboro grün, und

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