Geh nicht einsam in die Nacht
dafür begeistert, ich liebte es. Die Speisekarten, die in sechs verschiedenen Sprachen voller Fehler waren. Die Ferienhaussiedlungen mit ihren weißgetünchten Bungalows, die einander so ähnlich waren, dass man sich verirrte, wenn man nach Hause wollte. Die Namen der Drinks, die sich über fehlgeschlagene politische Projekte lustig machten: Cuba Libre, Lumumba. Und die Lieder von Julio Iglesias, der Geruch von Piña Colada, das Discostampfen und die kitschige Nachtclubpornographie. Stammte man aus Tallinge, musste man das alles einfach lieben, sagte ich Eva und ergänzte: Wo es keine Tradition gibt, darf man so geschmacklos sein, wie man will, Hauptsache, die Leere wird durch irgendetwas ausgefüllt.
Aber Eva hatte ein Jahr in Santa Cruz gewohnt, einen großen Teil der Zeit zusammen mit Joaquín, der von dort stammte. Sie war mit einer Freundin durch Indien gereist und hatte sich für einen zweimonatigen Sprachkurs in Mexiko aufgehalten. Sie hatte mehr von der Welt gesehen als ich und fand meine Sichtweise oberflächlich und arrogant. Ich hatte mich mal wieder in die Grünschnabel-Ecke geredet, und für einen kurzen Moment – die Nacht war schon schwarz um uns, wir hatten nur eine Kerze, die unsere Gesichter und einen Teil der Decke, auf der wir lagen, in Licht tauchte – schien es darauf hinauszulaufen, dass wir uns wieder streiten würden. Aber diesmal hörten wir rechtzeitig auf zu reden und begannen stattdessen, uns zu berühren.
Später in dieser Nacht erzählte ich Eva von dem Gespräch, das ich kurz vor unserer Reise mit Henry geführt hatte, und gab große Teile davon wieder. Ich glaube nicht, dass ich verbittert klang, ich sagte, es sei eine gute Unterhaltung gewesen, die in mir allerdings das Gefühl hinterlassen habe, mehr wissen zu wollen. Und das Gefühl, ein Niemand zu sein, aus dem Nichts zu kommen.
»Das Gefühl haben fast alle«, erwiderte Eva sachlich, »aber es tut mir leid, dass ich dir nicht weiterhelfen konnte.«
»Das macht nichts«, sagte ich. »Ich weiß doch, dass deine Schwester nie etwas erzählt hat.«
»Aber was willst du denn eigentlich wissen?«
»Ach …«, sagte ich zögernd. »Es gibt da schon ein paar Dinge, die ich Leeni gerne fragen würde. Aber ich weiß nicht. Ich meine, wie redet man mit seiner Mutter über … nun ja, über Liebe und Jugend und so weiter.«
»Wie mit jedem anderen auch, denke ich.« Eva trank einen Schluck aus der Bierflasche, die wir uns teilten, und strich eine Haarlocke fort, die ihr ins Auge gefallen war. Danach sagte sie, eher beiläufig und ohne zu ahnen, welche Bedeutung ihre Bemerkung für mich haben würde: »Kannst du dich nicht an Jouni Manner wenden? Er müsste sich doch an alles Mögliche erinnern können.«
»Manner?«, sagte ich. Der Gedanke war mir wohl schon einmal durch den Kopf geschossen, ohne sich jedoch darin festzusetzen. Bis zu diesem Moment nicht.
»Ja«, meinte Eva. »Er ist mittlerweile Chefredakteur. Du könntest ihm sogar anbieten, für ihn zu arbeiten. Du hast dir einen Namen als Journalist gemacht, Kapi, er hätte dich sicher gern in seinem Team.«
4
SCHON IM HERBST BEGANN ICH , für Jouni Manners Monatszeitschrift KYVYT zu schreiben. Ich war freier Mitarbeiter. Das Blatt hatte eine kleine Redaktion, bestehend aus dem Chefredakteur und zwei weiteren Angestellten, von denen sich einer um die Finanzen kümmerte, offene Stellen gab es nicht. Dagegen gab es eine große und internationale Schar von freien Mitarbeitern, und intern wurde hart um den Raum in den Spalten des Blatts gerungen, und die Artikel in KYVYT hielten eine hohe Qualität.
Ich würde gerne, schon allein wegen des Effekts, behaupten, dass etwas Besonderes, eine starke Spannung oder sogar ein intuitives Wiedererkennen an jenem Septembertag um zwei Uhr in der Luft lag, als ich mich zu meinem Termin bei Manner einfand. Aber so war es nicht. Es war ein höchst ordinäres Treffen, alltäglich, nahezu langweilig. Keiner von uns wich auch nur einen Millimeter von seiner professionellen Rolle ab, abgesehen von ein paar Sekunden, als Manner bewusst wurde, dass ich aus Tallinge stammte. »Da habe ich auch mal gewohnt«, sagte er, »aber das ist lange her.« »Oh«, erwiderte ich, »und wo?« »In der Nybogatan«, antwortete Manner.
Meine eigene Rolle spielte ich, merkte ich, erstaunlich gut. Ich war 23 Jahre alt, Abiturient von der Schwedischen Gemeinschaftsschule Tallinge, mit einem Abschluss cum laude und guten Zeugnissen von diversen Aushilfsstellen im
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