Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
Vom Netzwerk:
schweifenden Augen waren feucht.
    »Ehrlich gesagt«, sagte er, »waren mir Wahl und die anderen scheißegal. Ich hoffe, dass du … ja, dass du entschuldigst, wenn ich das so unverblümt sage. Es interessierte mich nicht die Bohne, wer der Schlingel war, der Leeni geschwängert hatte. Ich war vernarrt in sie, schon seit Jahren, so dass ich mich nur entscheiden musste, ob ich sie und dich haben wollte. Und ich kam zu dem Schluss, dass ich euch wollte. Ich dachte, dass wir später noch mehr Kinder bekommen würden.«
    »Hör mal«, setzte ich an und merkte, dass Wein und Schnaps auch an mir nicht spurlos vorübergegangen waren. Es fiel mir schwerer, die Worte zu artikulieren, und meine Gedanken wanderten rastlos umher. Außerdem verspürte ich innerlich eine eigentümliche Wärme, eine alte, fast vergessene Wärme, deren Ursprung plötzlich in meinem Gehirn aufblitzte. Die Sommer in Svartviken. Ich stehe neben Henry, wenn er einen Bogen bastelt oder einen Speer für mich schnitzt. Ich weiß schon, dass ich das Ding Henry zuliebe einen einzigen Nachmittag benutzen werde, um es anschließend zu vergessen. Den guten Willen weiß ich jedoch zu schätzen, dass er es versucht, daher das warme Gefühl. So auch jetzt: dass Henry, der eigentlich nicht gerne redete, sich die Mühe machte, mit mir zu sprechen.
    »Wenn du wusstest, dass Ariel eigenartig war«, begann ich von Neuem, »wenn du das von Anfang an wusstest, hast du dann niemals Angst vor mir bekommen? Davor, dass ich … auch eigenartig werden könnte?«
    »Weißt du«, erwiderte Henry, und nun lag sie wie Trauer in seinen Augen, die lange Reise, die er gemacht hatte und die sich zwanzig Jahre später mehr oder weniger in nichts aufgelöst hatte. »Ich hatte ehrlich gesagt keine Zeit, mir über so etwas Gedanken zu machen. Ich musste arbeiten. Ich wollte arbeiten. Es gab immer irgendetwas, was abbezahlt werden musste, das Auto, die Wohnung, Renovierungen. Und die Zeiten waren nicht so, dass man … es gab irgendwie niemanden, der verlangte, dass alles perfekt sein sollte. Es gab immer Probleme, und man kümmerte sich um sie, wenn sie sich einstellten.«
    * * *
    Eva Mansnerus und ich verreisten direkt nach Mittsommer. Wir hatten uns in unserer ersten Nacht im März für Interrail entschieden und an unserem Plan festgehalten, obwohl das restliche Frühjahr unglücklich verlaufen war. Ich glaube, keiner von uns war sonderlich enthusiastisch, zumindest ich nicht. Es war bereits das zweite Mal, dass Eva sich ohne Erklärung zurückzog, und obwohl es mir nicht sonderlich schwergefallen war, mir die Gründe auszurechnen, war ich dennoch verletzt und hatte keine Lust, ihren platonischen Freund zu geben.
    Die Stimmung blieb auf der gesamten langen Wegstrecke bis Amsterdam frostig und angespannt. Nach einem Streit über die Frage, ob Dänisch eine hässliche Sprache war oder nicht, schliefen wir eine Nacht in verschiedenen Zugabteilen. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass man sich über so etwas Banales so heftig streiten konnte.
    In Amsterdam wollte Eva das Anne-Frank-Haus sehen, während ich in einem Lokal namens Milky Way sitzen und mich wie ein Haschischbohemien fühlen wollte, obwohl ich nach einem schlechten Trip kein Ganjan mehr nahm und nur noch Zigaretten rauchte.
    In Paris fand Eva es kindisch, am Grab des mittelmäßigen Poeten Jim Morrison herumzuhängen. Ich schnaubte verächtlich über Notre-Dame und Saint-Sulpice und Sacré-Cœur und die anderen Kirchen, die sie besichtigen wollte.
    In San Sebastian regnete es. Wir wollten dort nur einen halben Tag bleiben, aber der leichte und prasselnde Sommerregen ließ mich davon anfangen, ein Hotelzimmer zu nehmen und in der Stadt zu bleiben. Eva wurde so wütend, dass sie aus der Bar schoss, in der wir im Stehen einen Espresso tranken, auf direktem Weg zum Bahnhof rannte und in den Zug nach Madrid stieg. Plötzlich erkannte ich, dass ich Gefahr lief, sie zu verlieren, sowohl als Dolmetscherin und Reisegefährtin als auch als Freundin, rannte ihr hinterher und sprang in den Zug, als er schon aus dem Bahnhof rollte, es war wie in einem alten Film.
    Ich rächte mich, indem ich auf der ganzen Fahrt über die spanische Hochebene am Zugfenster stehen blieb und in meinem Walkman New Year’s Day laufen ließ, ich hörte das Lied immer wieder, und am Ende verschmolzen die Musik und die karge Landschaft zu einem Video, das mir gehörte, mir ganz allein. Eva fühlte sich ausgeschlossen und wurde wütend. Das war so ein

Weitere Kostenlose Bücher