Geh nicht einsam in die Nacht
ein Mädchen. Und die Vorsitzende der Studentenschaft an der Finnischen Wirtschaftshochschule hieß Susanna Everi, sie engagierte sich in der Jugendorganisation der konservativen Nationalen Sammlungspartei und tauchte in den Zeitungen und im Fernsehen auf.
Letzteres erstaunte mich mehr als alles andere. Peter Everi hatte sich immer Sorgen um seine kleine Schwester gemacht, und es war leicht zu sehen gewesen, warum. Suski hatte keine Grenzen gekannt und schon in den ersten Jahren ihrer Pubertät fast alles ausprobiert. Pete und ich hatten befürchtet, sie könnte als Erwachsene in die Fußstapfen ihres Bruders Make treten. Mit ihrer Zahnspange hatte sie oben auf dem Rosari so schlaksig und traurig ausgesehen wie ein ausgemergeltes Nagetier. Nun sah man sie auf Pressebildern, und sie hatte glänzende Haare und ebenmäßige, weiße Zähne und trug hübsche Kleider, die zeigten, dass sie Kurven bekommen hatte. Mir kam der Gedanke, dass ich sie gerne wiedersehen würde. Genau wie Pete, es wäre wirklich schön gewesen, Pete mal wieder zu treffen: Keine übersteigerten Erwartungen, nur ein paar Bier trinken und schnell den Schaum von den verstrichenen Jahren schlürfen.
So wie sich ein Teil von mir in die Rolle des Massentouristen verliebte, sobald ich einen spielen durfte, liebte ein Teil von mir diese oberflächlichen Jahre Mitte der Achtziger. Sie verlangten uns, die wir am Rande lebten, so wenig ab. Kein Mensch forderte mehr, dass ich mich in die Strukturen der Gesellschaft vertiefte, wenn ich zwei Flaschen Wein getrunken hatte. Der Aufruhr war vorläufig eingestellt, und es galt als völlig legitim, sich Verwicklungen im Liebesleben und anderen privaten Dingen zu widmen.
Aber wenn die Welt ganz besonders glitzert und lärmt, geschieht dies, weil es Schweigen gibt, das sie vergessen will. Ein solches Schweigen hieß HIV . Schon seit ein paar Jahren war über AIDS gesprochen und geschrieben worden, aber die Heterosexuellen, vor allem promiskuös lebende, gaben sich einem Selbstbetrug hin und versuchten, so zu tun, als wäre das Virus lediglich ein Problem schwuler Männer. Gleichzeitig wurde die Zahl der Infizierten im südlichen Afrika und in den Großstädten der USA immer alarmierender. Das Gewissen holte die Selbstbetrüger ein. Dachte man wirklich logisch, wenn man sich einbildete, dass ein Virus über philosophisches Wissen verfügte und über Fragen zu sexuellen Neigungen und Lebensstil nachgrübelte, sobald es seine Weltreise antrat und überall Menschen ansteckte? Hatten nicht alle Schleimhäute oder offene Wunden? Gab es nicht zahlreiche bisexuelle Menschen? Außerdem wurde doch so unglaublich viel gereist! Diese Frau letzten Monat, die Tänzerin, war sie nicht gerade zu einer Studienreise in New York gewesen? Und hatte sie nicht erzählt, dass sie in Alphabet City in den exotischsten Clubs herumgehangen hatte? Wer wusste schon, wen sie dort getroffen und was sie dort gemacht hatte?
Eva Mansnerus und ich waren den ganzen Herbst und Winter zusammen gewesen, stritten uns aber oft. So fand Eva es beispielsweise lächerlich, dass ich mich im Kreis der engsten Mitarbeiter Jouni Manners eingenistet hatte, ohne ihm zu erzählen, wessen Sohn ich war. Ich entgegnete, dass ich auf die passende Gelegenheit wartete, wenn sie sich ergebe, würde ich schon aktiv werden.
Eva und ich waren uns auch nicht einig, wie wir leben sollten. Ich wollte, dass wir ein richtiges Paar wurden, allen zeigten, dass wir zusammen waren und uns Treue gelobten und Ähnliches. Eva wollte das alles nicht. Ich war für sie eher jemand fürs Bett und hatte keinen Exklusivanspruch auf sie. Wir sprachen über diese Dinge nicht offen, das war zu schwer, aber eins stellte Eva immerhin klar: Sie versprach nie, mir treu zu sein, nicht einmal, wenn ich versuchte, ihr ein solches Versprechen zu entlocken.
Als es Frühling wurde, erfuhr ich dann, auf Umwegen, dass sie sich nicht nur mit dem Sänger Lindy traf, sondern darüber hinaus eine Affäre mit einem fünfunddreißigjährigen verheirateten Arzt hatte. Dass sich der Arzt nebenher Geld als Fotomodell für das Kaufhaus Kuusinen verdiente und Lindys Band The Mellowboys eine Platte veröffentlicht hatte, die in den Charts stand, machte die Sache nicht unbedingt besser.
»Du schläfst mit drei Männern gleichzeitig!«, schrie ich sie an, als ich es erfuhr. »In diesen Zeiten! Du bist ja so ein Idiot!«
Ich war gedemütigt und verletzt, versuchte jedoch, die Angst vor Aids in den Vordergrund zu
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