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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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Rundfunk und bei den Tageszeitungen Hufvudstadsbladet und Östra Nyland. Außerdem hatte ich Manner vorher einige meiner Texte zugeschickt, freie, erzählende Reportagen, die ich in der alternativen Presse veröffentlicht und für die ich nie einen Pfennig gesehen hatte.
    Der Mann, der mir hinter einem anspruchslosen Schreibtisch gegenübersaß, war 38 Jahre alt. Er war ein ehemaliges journalistisches und politisches Wunderkind, Fernsehstar mit gut zwanzig Jahren und Minister mit dreißig, hatte inzwischen jedoch seinen Sitz im Parlament verloren und war seit einem Jahr Chefredakteur von KYVYT . Wenn er seine gegenwärtige Position als Niederlage betrachtete, übertünchte er dies gut, denn seine großgewachsene Gestalt war voller Energie und Selbstvertrauen, als er die Brille von der Nase hob, sie zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand baumeln ließ, sich vorlehnte, mit den Knöcheln der linken auf den dünnen Papierstapel klopfte, den ich ihm zugeschickt hatte, und sagte: »Die sind gut, Loman. Solche Artikel sollen Sie für uns schreiben.«
    Der Name des Magazins war durchdacht. Kyvyt bedeutet auf Finnisch so viel wie »Fähigkeiten« oder »Talente«. Aber im Logotype der Zeitschrift, das sich nicht nur auf dem Umschlag, sondern auch über dem Leitartikel befand (den immer Manner schrieb), waren fünf weitere Worte eingerückt: Kultuur, Yksilö, Vastun, Yhteisö, Tieto. Also: die Kultur, das Individuum, die Verantwortung, die Gesellschaft, das Wissen.
    KYVYT wurde 1980 gegründet, als die Hegemonie der Linken gerade gebrochen wurde. Es war kein Zufall, dass das Individuum im Logo vor der Gesellschaft stand. Die Zeitschrift hatte vor Manner bereits zwei andere Chefredakteure gehabt, ein bürgerliches enfant terrible und einen in der Linken verwurzelten Umweltschützer. KYVYT hatte zeitweise der grünen Bewegung nahegestanden und galt als linksgerichtet, allerdings mit einem Hauch von Leichtsinn und einem Hang zu abseitigen Phänomenen, weshalb die Rechtgläubigen das Blatt mit großer Skepsis betrachteten. Ein häufig zu hörender Kommentar unter den Dreißigjährigen in den Lokalen der Stadt lautete, dass KYVYT nur eine glänzende Fassade ohne wirklichen Inhalt bot.
    Ich selbst bewunderte KYVYT und hatte lange davon geträumt, für das Magazin schreiben zu dürfen. Heute wirken die alten Texte umständlich und blass, aber damals wurde KYVYT als schlagfertig und frech wahrgenommen. Die Spezialität des Blatts waren gut geschriebene Reportagen, die mehr auf Authentizität als auf Analyse setzten, aber es enthielt auch substantielle Interviews und Essays über Literatur und Film. Kurzum, man setzte auf hochklassige Bildjournalistik und ein elegantes Layout – Besitzer der Zeitschrift waren einige Kulturbohemiens, die zudem Geld hatten –, und KYVYT s aufwendige und ultramoderne Aufmachung hatte großen Anteil am Erfolg: Die Auflage wuchs kontinuierlich und lag bereits bei knapp 60000 Exemplaren.
    Ich musste hart arbeiten, um mich unter den versierten Journalisten behaupten zu können, deren Artikel das Magazin füllten. Einer von ihnen war Pete Everi, der zwei Monate zuvor eine ambitionierte Reportage über jugendliche Straftäter verfasst und auch in den Vorjahren Beiträge in ihr veröffentlicht hatte.
    Meine Debütreportage untersuchte, was aus den radikalen Theatermachern der sechziger Jahre geworden war, als sie ihre Jugend hinter sich ließen. Ich hatte ein Dutzend Interviews geführt und Proben und Aufführungen in Helsingfors, Åbo und Kotka besucht. Die Reportage hatte einen ironischen Unterton, ohne sarkastisch zu werden. Es war das erste Mal, dass ich einen Artikel auf Finnisch schrieb. Manner kürzte und berichtigte ihn etwas und ließ ein paar allgemeine Anmerkungen fallen, gab mir aber dennoch Carte blanche weiterzumachen. Er sagte im Grunde nichts, lobte mich nicht oder so, ließ mich aber spüren, dass ich meine Gesellenprüfung bestanden hatte und weiter für KYVYT würde schreiben dürfen.
    * * *
    Ich begriff rasch, noch ehe ich Jouni Manner besser kennenlernte, dass der Posten des Chefredakteurs von KYVYT für ihn eine Zwischenstation in Erwartung größerer Aufgaben war.
    Nicht dass Manner den Eindruck vermittelt hätte, sich Ruhe zu wünschen. Er war ein großer und kräftig gebauter Mann, und auf den ersten Blick konnte er einen behäbigen, fast schwerfälligen Eindruck machen. Er war in dieser Phase seines Lebens leicht übergewichtig – Bauch und Wangen waren ein bisschen

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