Geh nicht einsam in die Nacht
Hippiezug an ihr, zumindest in dieser Hinsicht ähnelte sie ihrer verstorbenen Schwester: Musik solle gemeinsam genossen werden, erklärte sie, sie sei ein uraltes kollektives Erlebnis und solle nicht dazu benutzt werden, vor anderen zu fliehen. Wir stritten uns wieder, und ich ging auf Konfrontationskurs und erklärte, jetzt fehlten nur noch die Blumen im Haar und Lill Lindfors, die davon sang, dass Musik aus Freude entstehen solle, wollten wir uns nicht auch noch Linsen und Möhrensaft besorgen? Unser Wortgefecht endete in tiefem Missmut, und Madrid entwickelte sich zu einem kühlen Erlebnis, obwohl die Temperaturen bei vierzig Grad im Schatten lagen. Eva und ich lagen in einem Doppelbett mit kunstvoll gedrechselten und detailreich verzierten Kopf- und Fußenden, jeder auf seiner Seite, jeder in sein dünnes, aber verschwitztes Betttuch gewickelt, und berührten uns in den Nächten nicht.
In Sevilla endete der Krieg. Die Stadt war genauso schwül und voller Menschen wie Madrid, aber Eva und ich fanden ein Zimmer in einem kleinen Familienhotel, das in einer schattigen Seitenstraße lag. Am Abend tranken wir Wein, kehrten erst in den frühen Morgenstunden ins Hotel zurück und kicherten hysterisch, als wir versuchten, uns die Zähne zu putzen und gleichzeitig in ein lächerlich kleines Waschbecken auszuspucken. Als wir uns auszogen und ins Bett fielen, lachten wir immer noch, und zu meinem Erstaunen schmiegte sich Eva sofort an mich, und dann küssten wir uns, und es war keine Frage, was sie wollte, denn ihre Hand bewegte sich abwärts über meinen Bauch, und ihr ganzer Körper bot mir an, mit ihm zu tun, was ich wollte. Trotzdem zögerte ich, denn die vorhergegangenen Monate waren qualvoll gewesen, und ich sah noch vor mir, wie Eva mit dem Arm um die Taille des Sängers Lindy in der Bar des Tavastia gestanden hatte. Ich wollte ihr gerade »Wollen wir wirklich?« ins Ohr murmeln, als sie mir zuvorkam und in meins flüsterte: »Ich habe es gecheckt. Wir sind nur weitläufig verwandt. Sehr weitläufig.«
Wir hatten ein Etappenziel, an dem wir etwas länger bleiben wollten, das nicht weit von Sevilla entfernt lag. Henrys anonymer Kollege war nicht der einzige Finne mit einem Wohnsitz an der Costa del Sol. Es gab andere, die dort seit Jahr und Tag lebten, seit Jahrzehnten sogar, zum Beispiel einen entfernten Verwandten Evas, der auf den Namen »Onkel Cedric« hörte und dessen Adresse Eva kurz vor unserer Abreise von ihrer Mutter bekommen hatte.
Onkel Cedric und seine spanische Frau wohnten in einer Villa auf einem Hügel im Hinterland von Marbella. Aber Villa ist das falsche Wort: Es war eher ein Palast mit zwei großen Esszimmern und sechs oder sieben Schlafzimmern, von denen die meisten ein eigenes Badezimmer hatten. Es gab eine riesige Küche, in der die Köchin und zwei Hausmädchen arbeiteten, es gab einen Billardsalon und einen weitgestreckten Garten mit einem großzügigen Swimmingpool in einiger Entfernung zum Haus. Im Garten wuchsen Bougainvilleen und Orangen- und Olivenbäume, es gab sogar ein paar Reihen Weinreben. Die Villa war nach ihrem Besitzer benannt, Quinta Lilliehjelm , und der Weg zu ihr hinauf war uns lang, verschlungen und steil vorgekommen. In Luftlinie war es jedoch nicht weit bis Marbella. Vom Garten aus sah man Teile der Stadt und dahinter das glitzernde Mittelmeer.
Onkel Cedric war ein großer, gebückter Greis mit einer Haut, die in der andalusischen Sonne wettergegerbt und runzlig geworden war. Seine Sonnenbräune hatte einen ungesunden gelbbraunen Ton und trug zu dem leicht beängstigenden Eindruck bei, den er auf mich machte. In meinen Augen wirkte Onkel Cedric fast schon uralt. »Er ist fünfundachtzig oder so«, meinte Eva zu mir, als man uns unsere Schlafzimmer zugewiesen hatte – während der Tage bei Cedric durften wir nicht zusammen schlafen, seine Gattin Consuela war eine tiefgläubige Katholikin – »und ist ein paar Jahre nach dem Krieg hierher gegangen, er lebt also schon seit fast vierzig Jahren in Spanien.«
Ich fand Onkel Cedric nicht wirklich sympathisch. Mit der fast dreißig Jahre jüngeren Consuela sprach er Spanisch, und uns Gästen gegenüber war er nicht sonderlich mitteilsam. Eva und ich waren nicht die einzigen Besucher, auch Cedrics Sohn Christian war gekommen, ein unscheinbarer Jurist von etwa fünfzig Jahren, und Christians ebenso unscheinbare Frau Tina. Tina und Christian machten nur Konversation über garantiert unverfängliche Themen wie das Wetter und
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