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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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abgebrühte Zuhörer eine Gänsehaut bekommen. Es ist, im Großen und Ganzen, ein ergreifendes Stück Musik, ein Gesellenstück, das Schönheit und Tiefe besitzt, und es ist schade, dass so wenige Menschen den Song kennen. Er ist derart unbekannt, dass er nicht einmal in den umfangreicheren Samplern zu den Sechzigern enthalten ist. Ein einziges Mal hat das Lied Gnade gefunden, und zwar in der sehr ambitionierten 12- CD -Ausgabe mit dem Titel »Se Kauan Soiva Blues – Finnish Pop Gems From The Sixties«. Aber nicht einmal dort wurde es von irgendeinem Trendnerd entdeckt, nicht einmal dort bekam es einen Knuff in die Welt, in der ultracoole Kids des 21. Jahrhunderts ständig auf der Suche nach vergessenen Perlen sind, denen man Kultstatus verleihen kann.
    Was wäre geschehen, wenn das Lied ein Evergreen geworden wäre, ein Klassiker wie Satumaa , Summer In The City oder Strangers In The Night ? Es gibt Beispiele für einzelne Songs, die ganze Familienclans ernährt haben.
    Oder wenn der Song zumindest ein kleiner Erfolg gewesen wäre? Dann hätten Joni, Ariel & Adriana neue Singles, vielleicht sogar ein Album einspielen dürfen. Und dann hätten sie als Gruppe weitergemacht, eine gemeinsame Karriere begonnen und sich vielleicht gegenseitig ein wenig besser schützen und behüten können.
    Anfangs waren meine Fragen ganz simpel.
    Stand Ariels Schicksal von Anfang an in ihm geschrieben? Ließ sich in Adriana eine Zerbrechlichkeit erahnen, obwohl sie so hinreißend schön war und auf jedem der Fotos aus diesem Frühling einen so selbstsicheren Eindruck machte? Sahen sie einander, verstand der eine, wer der andere und der dritte war? Sahen sie das Fragile hinter all den spöttischen Gesten, all den ironischen Bemerkungen, all den kettengerauchten Zigaretten, die so lässig im Mundwinkel wippten?
    Oder sahen sie nichts? Wurde alles hinter der Attitüde, hinter der Extravaganz, hinter den Kleidern versteckt, die sie vor der Fotosession von Adrianas reichen Freunden kauften oder liehen? Wurde alles hinter der Samtjacke und dem Wildlederjackett verborgen, hinter dem bunten Hemd mit der Krause auf der Brust und hinter den lustigen Hüten?
    Es wird Zeit, diese Geschichte eine Weile alleine wandern zu lassen, ohne dass ich mich zu Wort melde und störe.

J OUNI, A RIEL UND A DRIANA
    Man kann sich nicht vorstellen, wie es ist, einsam durch die Nacht zu gehen.
    Wenn man dann dort ist, kann man sich nichts anderes mehr vorstellen.

1
    (1964)
    IN DEN ERSTEN SOMMERN hatten Jouni, Ariel und Adriana zwei Treffpunkte, den Park an der Alten Kirche im Stadtzentrum und den Heilsarmee-Felsen nördlich der Långa-Brücke. Die Heilsarmisten hatten den Felsen oberhalb des Wassers der Djurgårdsviken als Standort genutzt, seit sie siebzig Jahre zuvor in Finnland eingetroffen waren. Mittlerweile hatte die Stadt jedoch den Felsen für sich beansprucht. Man baute ein neues großes Behördengebäude, und der Hügel war bereits in Stücke gesprengt und das Fundament gelegt worden, das Haus erhob sich allmählich aus der Baugrube. Die Heilsarmisten hatten weichen müssen, und für alle anderen galt das Gleiche: Jouni, Ariel und Adriana hatten sich unterhalb der Baustelle, am Ufer der Djurgårdsviken verabredet.
    Es war einer der letzten Julitage. Ariel und Adriana kamen praktisch gleichzeitig zum Treffpunkt. Sie ließen sich unter einem Baum nieder, und Ariel löste augenblicklich den Knoten seiner Krawatte, zog sich den verhassten Stofffetzen mit einem entschlossenen Ruck über den Kopf und stopfte ihn in die Tasche seines Jacketts. Anschließend zog er das Jackett aus und bot es Adriana als Sitzunterlage an. Adriana hatte die Schuhe ausgezogen und rollte ihren rechten Strumpf herunter, blickte auf, lächelte und schüttelte ablehnend den Kopf. Ariel liebte es, wenn Adriana lächelte. Er öffnete die beiden obersten Knöpfe seines Hemds und schlug die Ärmel hoch. Adriana musterte verstohlen seine hageren Arme und seinen weißen, mageren Brustkorb, der unter dem aufgeknöpften Nylonhemd zu sehen war: Ariel war wenige Tage zuvor einundzwanzig und somit ein erwachsener Mann geworden, war jedoch schlaksig wie ein halbwüchsiger Junge. Sie erkannte das Hemd: Es war ein Modell, das ihr Vater Göran vor ein paar Jahren getragen hatte, und sie nahm an, dass er Lydia Wahl zur Weiterleitung an Ariel eine Auswahl fadenscheiniger und verblichener Sachen übergeben hatte. Plötzlich schaute Ariel auf und sah ihr direkt in die Augen, und sein Blick war intensiv,

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