Geh nicht einsam in die Nacht
Prinz gewesen, in Wahrheit hatte er – Leeni sah mich entschuldigend an und zögerte einen Moment, ehe sie weitersprach – ziemlich hässlich ausgesehen.
»Mama, ich habe Bilder von ihm gesehen«, erwiderte ich, »ich weiß, wie er aussah.« Ich suchte nach einem passenden Wort und meinte es zu finden: »Originell.«
Leeni sah mich erneut vorsichtig, fast scheu an und meinte:
»Ich bin immer froh gewesen, dass du so auf mich kommst. Was das Aussehen betrifft, meine ich. Außerdem machte das natürlich alles wesentlich leichter. Es kam wohl schon einmal vor, dass meine Mutter oder Meeri oder einer unserer Freunde meinte, man sehe gar nichts von Henry in dir. Aber das sagten sie ohne Hintergedanken, es sollte ein Scherz sein. Und ansonsten war alles … du sahst ja nicht seltsam aus oder so.«
»Ich war kein Troll«, murmelte ich.
»Wie bitte?«, sagte Leeni.
»Nichts, schon gut«, wich ich aus.
Sie erzählte weiter. Für ihr Alter sei sie damals relativ schüchtern gewesen, sie habe Freundinnen gehabt, die wesentlich forscher gewesen seien, Freundinnen, die schon mehrere Freunde gehabt und Alkohol getrunken hätten, während sie nur Tee und Limonade getrunken habe. In der ersten Klasse des Gymnasiums sei sie mit einem Jungen gegangen, aber das sei eine ziemlich unschuldige Angelegenheit gewesen, und danach habe ihr der fast neun Jahre ältere Henry Loman den Hof gemacht, obwohl ihre Mutter alles getan habe, was in ihrer Macht stand, um dem einen Riegel vorzuschieben.
Ariel war wirklich schlecht in Englisch, seine Grammatikkenntnisse waren mangelhaft und sein Wortschatz äußerst bescheiden, aber er schrieb Liedtexte auf Finnisch, und deshalb war Leeni auf die Idee verfallen, zunächst Lieder und im Anschluss auch Gedichte in ihrem Nachhilfeunterricht zu verwenden. Niemand hatte ihr den Tipp gegeben, darauf war sie selbst gekommen. Diese Art intuitiver Ideen und der Mut, sie auch in die Tat umzusetzen, unterscheide einen guten Pädagogen von einem schlechten, meinte sie. Es funktionierte, Ariels Interesse wurde geweckt, und daraufhin lernte er besser.
Und dann kam jener Novemberabend. Raili hatte in dem Herbst ihren zukünftigen Mann Matti kennengelernt und war in den Norden gereist, um sich mit ihm zu treffen, und Leenis jüngere Schwester Meeri war zu ihrer Freundin im Nachbarhaus gegangen und wollte dort übernachten. Am späten Nachmittag, als es schon dunkel geworden war und die Menschen von der Arbeit heimkamen und das Radio einschalteten, kam Ariel Wahl zu seiner Nachhilfestunde.
»In der vorherigen Stunde hatte ich ihm Do Not Go Gentle vorgelesen«, sagte Leeni und zog die Decke enger um sich. »Ich hatte es abgetippt, und Ari hatte es mitnehmen dürfen, er war geradezu besessen davon gewesen. Er wollte wissen, wie der Mensch war, der ein solches Gedicht schreiben konnte, und ich erzählte ihm von Dylan Thomas und sagte ihm die Wahrheit, dass Thomas ein Bohemien und unglücklicher Mensch gewesen war, ich habe ihm, glaube ich, sogar erzählt, dass er sich zu Tode getrunken hat. Ariel wollte, dass ich ihm das Gedicht noch einmal vorlese, er …« – an diesem Punkt wandte Leeni den Blick zum See und verweilte dort, die Erinnerung an den Vorfall war ihr immer noch peinlich – »… sagte, ihm gefalle meine Stimme, wenn ich ihm auf Englisch vorläse. Also las ich und …«
Sie verstummte und streckte sich nach ihrem Weinglas. Um ihren Mund lag ein strenger Zug, der vorher noch nicht da gewesen war.
»Ich habe dir auch immer gerne zugehört, wenn du mir auf Englisch etwas vorgelesen hast«, warf ich ein, um ihr auf die Sprünge zu helfen. »Meine Aussprache ist nicht so gut wie deine, und das, obwohl ich mein Leben lang Popmusik gehört habe und Englisch allgegenwärtig ist.«
Meine Mutter zuckte mit den Schultern und zog kurz eine Grimasse.
»Seither sind fast dreißig Jahre vergangen«, meinte sie leise, »aber was damals passiert ist, erscheint mir immer noch unfassbar. Dass es passiert ist. Aber ich wusste natürlich, dass er in mich verliebt war, und irgendwie genoss ich es wahrscheinlich, mich schön zu fühlen. Ich las das Gedicht, und dann las ich es noch einmal, glaube ich, und Ari spielte Gitarre, und wir tranken ein bisschen Wein aus der Flasche, die er mitgebracht hatte, billigen Wein, aber wir tranken ihn aus Gläsern, die ich geholt hatte, schließlich war ich ein ordentliches Mädchen. Und dann waren wir auf einmal in meinem … nun ja.«
Sie unterbrach sich erneut und blickte zu
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