Geh nicht einsam in die Nacht
dem grauen Vorsommerhimmel, ein schneller und resignierter Blick, als wollte sie sich dort Unterstützung holen, erinnerte sich jedoch augenblicklich daran, dass von dort keine Hilfe zu erwarten war. Schließlich fuhr sie fort:
»Ich hoffe, du entschuldigst, dass ich mich so plump ausdrücke, aber …«
»Plump?«, konnte ich mir nicht verkneifen einzuwerfen. »Für so etwas hast du wirklich deinen ganz eigenen Maßstab, Mama.«
»… er war wirklich ein so hässlicher Kerl. Henry war ja nun auch keine Schönheit, aber mit einem schicken Haarschnitt und einem weißen Hemd und etwas Rasierwasser sah er richtig passabel aus und tut es immer noch, denke ich. Aber der arme Ari … und wenn man sich vorstellt, dass jemand wie du herauskommen kann bei so etwas Hastigem und …«
Leeni verstummte wieder, und ich sah, dass die Erinnerung an ihr Schäferstündchen mit Ariel nicht nur auf ihrem Gesicht, sondern auch auf ihrem Hals rote Flecken sprießen ließ. Sie befreite sich aus der peinlichen Situation, indem sie handelte, wie sie es immer getan hatte, wenn sie auf dünnes Eis geraten war: Sie hielt sich an das, was sich nachprüfen ließ.
»Ari schrieb ein Lied. Ich glaube, er schrieb es nur ein paar Tage danach, noch bevor wir wussten … tja, was passiert war. Er sang dieses Lied oft. Außer mir wusste keiner, dass es von Do Not Go Gentle Into That Good Night inspiriert war. Aber Ari hatte alles falsch verstanden. Sein Song handelte von Jugend und Liebe und nicht davon, den Tod zu verneinen.«
»Ist das nicht das Gleiche?«
»Es war dumm von mir, es ihm zu erzählen«, sagte Leeni, ohne meinem Einwurf Beachtung zu schenken, »aber als ich merkte, dass ich bei meinem ersten Mal schwanger geworden war, geriet ich in Panik … und so etwas war damals eine große Sache, das kannst du mir glauben. Noch dazu mit dem falschen Mann.«
Die roten Flecken wurden immer schlimmer. Ich wollte meine Sympathie zum Ausdruck bringen, aber mir fielen keine passenden Worte ein. Leeni ergriff wieder das Wort:
»Der arme Ari, er geriet natürlich auch in Panik. Als ich es ihm erzählte, sagte ich ihm, dass wir niemals ein Paar werden würden und ich nicht wisse, was ich tun solle. Danach sah ich ihn nicht mehr. Meeri und ihre Freunde meinten, er habe sich zu Hause eingeschlossen und sitze dort nur herum und spiele Gitarre, er ist den ganzen Winter und das Frühjahr über nicht vor die Tür gegangen. Aber sie wusste natürlich nicht, woran das lag. Ich muss wohl froh sein, dass Ari es schaffte, den Mund zu halten, und nicht mehr Ärger machte, als er tat.«
»Du meinst, als er bei uns anrief und sich unten auf die Straße stellte?«
Leeni sah mich an und nickte:
»Henry hat dir davon erzählt?«
»Ja«, sagte ich. »Ach übrigens, wie erfuhr Henry denn eigentlich …?« Erst jetzt fiel mir der Mann ein, der achtzehn Jahre lang mein Vater gewesen war.
»Jaa-a«, sagte Leeni, und ich hörte, dass ihre Stimme ein wärmeres Timbre annahm.
»Woher ich damals den Mut nahm, es Henry zu erzählen, weiß ich nicht. Oder woher er die Kraft nahm, so zu reagieren, wie er es tat. Wir sind getrennte Wege gegangen, aber ich werde ewig dankbar sein, dass dieser Mann existiert.« Sie schaute zu Boden, und ich begriff, woran sie dachte: an das zweite Kind, das niemals kam.
»Es ist schon seltsam«, sagte sie dann. »Man steckt in der Klemme und wird von einer Lösung gerettet, die man sich als Provisorium vorstellt. ›Das wird niemals halten‹, denkt man. Aber dann vergehen erst fünf und dann zehn und schließlich fünfzehn Jahre, und am Ende wird einem klar, dass die vorübergehende Lösung zu einem ziemlich großen Teil des Lebens geworden ist.«
Ich hörte Osmos Volvo in die Garageneinfahrt einbiegen.
»Jetzt hör aber mal, Mama«, sagte ich, weiterhin leichthin. »Ich will keine Klemme sein. Nicht einmal dreißig Jahre später.«
»Ach Quatsch«, erwiderte Leeni. »Leg nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Ich liebe dich und bin stolz auf dich, das weißt du.«
»Dieses Lied ist übrigens auf Platte erschienen«, sagte ich.
»Welches Lied?«
»Ariels Lied. Von dem du erzählst hast. Es ist ein paar Jahre später auf einer Platte herausgekommen.«
»Tatsächlich?«, fragte Leeni zerstreut. »Ich weiß, dass ich damals hörte, er habe eine Art Band gegründet, aber …«
Ihre Stimme erstarb in völligem Desinteresse, und mir wurde klar, dass ihr die Verbindung zu Familie Mansnerus nicht bekannt war. Henry hatte gewusst, dass die
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