Geh nicht einsam in die Nacht
war, alles zugleich. Und als ich mich auf der morschen Holzbank vor dem Saunahäuschen niederließ und sah, wie die Sonne verschwand und über dem See Regenwolken aufzogen, fiel mir wieder ein, dass Eva neben mir gesessen und ich versucht hatte, ihr die Magie in der Dampfpfeife der s/s Jäminki zu erklären, und wie sie mir erzählt hatte, dass die Hölle und Tallinge für sie Synonyme waren. Während ich dort saß, begann es zu regnen, und daraufhin entsann ich mich der Regenfälle in den Siebzigern und des Rauchs, der aus einem Dutzend Schornsteinen rund um die Bucht aufstieg, und dann stieg mir plötzlich der Duft frisch brennenden Holzes in die Nase, ich spürte ihn, weil er in meinem Körper gelagert lag, der auch mein Gedächtnis war, und meine Erinnerung war stärker als die Tatsache, dass an diesem Werktag Anfang Juni alle Sommerhäuser still und leer standen.
Es raschelte im Kies am Giebel der Sauna, und als ich den Kopf drehte, dachte ich, mir würde das Herz stehen bleiben. Der andere, ein graumelierter und dicker Mann mit einem Gewehr in der rechten Hand, bekam genauso große Angst wie ich. Ich sah die Fingerknöchel seiner Rechten weiß werden, als er das Gewehr umklammerte. Es vergingen viele Sekunden, bis jemand etwas sagte, wir rührten uns nicht vom Fleck, er am Giebel stehend und ich auf meiner Bank sitzend ließen wir uns nicht aus den Augen. Dann erkannte ich ihn.
»Herr Kuokkanen, ich bin’s, Frank Loman«, sagte ich behutsam auf Finnisch.
Er schien immer noch panische Angst zu haben, aber dann blitzte in seinen Augen etwas auf.
»Sie sind’s, Herr Loman?«
Ich nickte erleichtert, und damit war das Eis gebrochen. Toimi Kuokkanen legte das Gewehr fort und entschuldigte sich wortreich dafür, es fast auf mich gerichtet zu haben. »Aber es ist nicht geladen, es sollte nur Angst einjagen«, beteuerte er, und ich stand von meinem Platz auf, lächelte und versicherte ihm, es sei alles in Ordnung. Wir gaben uns die Hand, und Kuokkanen erzählte, ein Nachbar habe ihm mitgeteilt, dass sich jemand auf dem Grundstück herumtreibe, so dass er es für das Beste gehalten habe, mal nach dem Rechten zu sehen. Gerüchten zufolge solle sich ein entlaufener Häftling aus dem Sukeva-Gefängnis in der Gegend aufhalten, und man wisse ja, was für eine Sauerei solche Gestalten in den Häusern hinterließen, in die sie einbrachen.
Kuokkanen und ich standen lange zusammen und unterhielten uns, er fragte mich nach Leeni, Henry, Raili, Meeri und den anderen, die uns regelmäßig besucht hatten. Und ich konnte ihm erzählen, dass meines Wissens noch alle lebten, Henry und Leeni jedoch seit vielen Jahren geschieden und inzwischen wieder anderweitig verheiratet waren.
»So, so, Herr und Frau Loman haben sich scheiden lassen, ja, so ist das heutzutage«, nickte Kuokkanen und bestätigte anschließend meine Vermutung, dass unser Haus von keinem mehr gemietet worden war, nachdem wir es aufgegeben hatten. Die Leute verlangen heute einen etwas höheren Komfort, meinte er.
»Aber vielleicht hat ja der junge Herr Familie und ist interessiert«, sagte er versuchsweise. Ich wollte ihm sagen, dass er mich nicht »Herr« nennen sollte, schüttelte stattdessen jedoch nur den Kopf und sagte, es tue mir leid, eher nicht, ich sei noch Junggeselle und ein eingefleischter Stadtmensch.
* * *
Im selben Jahr, 1989, passierte noch etwas, was sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Es geschah im Spätherbst, bei Regen und Nebel, als die Europakarte neu gezeichnet wurde und die Menschen sich ausnahmsweise ohne Blutvergießen von ihren Unterdrückern befreiten.
An einem Novemberabend rief Eva Mansnerus mich an. Sie war im Aurora-Krankenhaus, sie weinte am Telefon. Nadia hatte eine Erkältung gehabt, die sich zu etwas entwickelt hatte, was Eva für eine gewöhnliche Augeninfektion hielt, an der Nadia im Herbst schon einmal erkrankt war. Sie waren zu einem Arzt gegangen, der Augentropfen verschrieben hatte, aber ein paar Tage später war das infizierte Augen angeschwollen und ganz rot geworden, und Nadia hatte hohes Fieber bekommen und über starke Kopfschmerzen geklagt. Eva hatte ärgerlich reagiert – sie hatte sich an dem Gymnasium, in dem sie arbeitete, schon drei Tage vertreten lassen müssen – und Nadia angeschnauzt und eine Heulsuse genannt. Sicherheitshalber waren sie dann aber doch zur Kinderklinik gefahren, und als der Arzt Nadia sah, hatte er auf der Stelle ein Taxi gerufen und sie ins Aurora geschickt, und als sie dort
Weitere Kostenlose Bücher